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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin
Autoren: Sandra Lüpkes
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so fest auf den runden Bauch drückte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
    »Ich habe es gedreht, Imke, nun liegt es endlich richtig. Das Köpfchen ist in meiner Hand, ich fühle die langen Haare.«
    Imke Boyunga stöhnte.»Du belügst mich doch. Es ist alles aus, das spüre ich. Ich sterbe!«
    »So leicht stirbt es sich nicht. Reiß dich zusammen. Die Flut hat eingesetzt, hörst du, Imke? Fast alle Inselkinder werden bei auflaufendem Wasser geboren. Du musst pressen, mit all deiner Kraft, dann haben wir es bald.«
    »Ich bin nicht stark genug, es wird mich zerreißen … «
    »Unsinn, wenn du jetzt nicht presst, werdet ihr beide krepieren, das kann ich dir versprechen. Aber das Kind, Imke! Es muss leben! Gott hat einiges mit ihm vor! Elias Thielen hat es gesagt. In der Nacht wird ein Kind geboren -«
    »Aber er meinte doch Weihnachten … Christus … und nicht dieses … « Der Rest des Satzes verlor sich in einem Schmerzensschrei.
    Geesche Nadeaus schob sich weiter nach oben, legte ihren Arm unter die Brust der Frau und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht nach unten. Imke Boyunga schrie erbärmlich.
    Tasso hielt sich die Ohren zu, bis er am Gesicht der Liegenden ablesen konnte, dass die Wehe vorüber war. Am liebsten wäre er davongelaufen.
    »Soll ich Wasser holen, Mutter?«, fragte er hoffnungsvoll.
    »Wasser? Wozu brauchen wir Wasser, wenn das Blut hier in Strömen fließt? Komm her, mein Junge, du kannst mir helfen.«
    Um Gottes willen, dachte Tasso, bitte nicht das. Er rührte sich nicht.
    »Ohne dich wird es nicht gehen. Der verdammte Winter hat mir das nötige Gewicht geraubt. Ich bin zu leicht, um das Kind allein herauszupressen. Komm her.«
    Langsam schob Tasso einen Schritt vor den anderen. Ein widerlicher Geruch von Blut, saurem Schweiß und Exkrementen stieg ihm in die Nase, je näher er kam.
    »Mach schon!«, befahl seine Mutter unbarmherzig. Das aufflammende Stöhnen der Frau kündigte bereits die nächste Schmerzenswelle an.»Leg dich auf ihre Brust, Tasso. Du musst es tun!«
    Übelkeit stieg in ihm auf. Warum quälte seine Mutter ihn so, warum ließ sie ihm nie die Möglichkeit, einer unerträglichen Situation zu entfliehen?
    Hart umfassten ihre knochigen Finger seinen Nacken und schoben ihn dorthin, wo der säuerliche Atem der Schreienden zu riechen war. Tassos Hände ertasteten den Berg, unter dessen Oberfläche sich ein lebendiges Wesen verbarg. Ihm grauste, und doch folgte er den Anweisungen seiner Mutter. Er drückte und schob und wehrte sich gegen die Schläge der Frau, die wie von Sinnen versuchte, ihn loszuwerden.
    Die Wehen folgten nun so kurz aufeinander, dass keine Zeit mehr zum Atemholen blieb. Tasso blickte in zwei schreckensstarre Augen, in denen das ehemals Weiße nun so blutrot war, dass man keinen Übergang mehr zur braunen Iris, zur schwarzen Pupille ausmachen konnte. Wie leblose, unergründliche Höhlen klafften die Augen in dem bleichen Gesicht, sie schauten ihn an und durch ihn hindurch.
    Doch Imke Boyunga war nicht tot. Sie war nur stehen geblieben, auf dem Höhepunkt dieser Welle, ohne Luft und ohne Worte, bis endlich eine Abwärtsbewegung auszumachen war. Der Berg unter Tasso glitt plötzlich dahin, und kurz darauf war ein zarter Schrei zu hören. Ein leiser Schrei, fast ein Singen.
    »Es ist ein Mädchen, Imke «, sagte seine Mutter und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
    »Ein Mädchen?«, fragte die Frau des Inselvogts mit erschöpfter Stimme.»Siehst du, nichts hat es auf sich mit deinem Gerede von Elias Thielen. Ein Mädchen bedeutet nicht viel. Es kann keine Gottesaufgabe sein. Niemals!«
    »Das werden wir sehen, Imke Boyunga.« Tassos Mutter saß noch immer zwischen den gespreizten Beinen und zog an der blutigen Schnur, die den Säugling mit der Mutter verbunden hatte. Ein Schwall dunkelroten Fleisches rutschte auf das Strohbett. Tasso musste würgen.
    »Renn los, Junge, und such den Inselvogt. Sag ihm, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Das Kind ist da. Es lebt. Genau wie die Mutter.«

4
    T asso stemmte sich gegen den Sturm. Der Wind hatte weiter zugenommen, und es war, als hätte die Natur heute all ihre Kräfte mobilisiert, um es ihm besonders schwer zu machen.
    Er versuchte zu rennen, doch er prallte gegen eine Wand aus Luft. Für die Strecke über den Inseldurchbruch würde er sicher mehr als doppelt so lange brauchen wie für den Hinweg. Zudem stand schon viel Wasser auf dem Hammrich, obwohl die Flut gerade erst eingesetzt hatte. Wenn er sich nicht
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