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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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unglaubliches Glück gehabt: das fremde Mädchen, das für kurze Zeit die Klasse im Dorfschulhaus am Zürichsee (bald würde es mein eigenes Schulhaus sein) besuchte und Ume hieß, hatte sich gerade ihn, den stillen Jungen, als Begleiter und Spielkameraden für die Reise in ihre andere, entfernte Heimat ausgewählt. Ihr Vater war ein erfolgreicher Schweizer Textilkaufmann, ihre Mutter aber stammte aus jenem fernen Land. Und alle zwei Jahre wechselte die Familie ihren Wohnsitz von einer Seite der Erde zur andern.
      Der erste Band (denn es gab noch einen zweiten) handelte von dieser Weltreise, die viele Wochen dauerte. Sie führte durch Frankreich und über den Atlantischen Ozean nach New York, quer durch den nordamerikanischen Kontinent und schließlich über ein zweites, noch größeres Meer. Und wo die Familie mit ihren Dienstboten und den zwei Kindern schließlich ankommt, ist alles anders. Die Menschen im Zug sitzen auf ihren Absätzen. Sie essen ihre Nudeln mit Stäbchen aus kleinen, mit Schilfblättern ausgelegten Holzschachteln und bezahlen dafür mit Münzen, die in der Mitte ein Loch haben. Es ist ihnen erlaubt zu schlürfen, so laut sie wollen. KimonoDamen rauchen Pfeifen, dünn wie Bleistifte, und überall im Waggon stolpert Hansi über Spucknäpfe aus Messing. In der Stadt, wo Umes Mutter (»Mamatschan«) geboren wurde, sind die Häuser aus Holz und sehen wie kostbare Scheunen mit schweren Dächern aus. Die fremde Großmutter, die sie empfängt, hat geschwärzte Zähne, und wenn sie winkt, bewegt sie die Hand in der verkehrten Richtung, als wolle sie Hansi wieder verscheuchen. Dabei ist sie überaus freundlich und höflich, wie alle Menschen hier, die sich immerzu voreinander verneigen. Und sie bewundert, wie alle, Hansis blondes Haar. Die Villa, in der er jetzt wohnt, hat Wände aus Papier, durch das die Kinder ihre Finger bohren, ohne daß jemand sie ausschimpft. Die meisten Räume kann man nicht verschließen, aber wenn Hansi aus Versehen in das besetzte Bad hineintappt, braucht er nicht rot zu werden. »Hier schämt man sich nur, wenn man schmutzig oder böse ist, sonst nicht.« Die wenigen Schlösser, die es im Haus gibt, sind Geduldspiele aus Holz, die man mit geschickten Fingern und ohne Schlüssel lösen muß. Alle schlafen auf Matten aus Reisstroh. Hansi bekommt zwar ein richtiges Eisenbett, aber zur Begrüßung steht ein Rotkohl in der Vase daneben, und Hansi muß lernen, daß ein Rotkohl schön ist wie eine Rose. Nachts gehen Wächter mit einem Glöckchen am Hals um das mit Holzläden dicht verschlossene Haus und warnen die Diebe, die über die Dächer huschen. Friedhöfe sind wunderbare Kinderspielplätze, nur vor den Schlangen muß man sich in acht nehmen.
      Hansi lernt auf den Ausflügen mit seiner neuen Familie noch andere merkwürdige Tiere kennen. In Nara gibt es einen heiligen Schimmel, dem man ein Geldstück hinlegt; dafür reicht er einem mit vorsichtigem Maul ein Papier, auf dem einem die Zukunft vorausgesagt wird. Oder singende Kinder in prächtigen Kleidern tragen Glühwürmchen, die sie in kleinen Holzkäfigen gesammelt haben, durch die sommerliche Nacht. Oder Hansi hat Mitleid mit dem Goldfinken, den ein Fallensteller als Lockvogel verwendet, um andere Vögel auf seine Leimrute zu locken. Hansi wirft weichgekaute Papierkügelchen nach dem Kopf einer großen Buddhafigur vor dem Tempel; wenn eines haften bleibt, darf er sich etwas wünschen, und obwohl ihn das fremde Land verzaubert, wünscht er sich doch immer wieder nach Hause. Umes Papa besitzt ein herrschaftliches Auto mit Chauffeur, dem die zahllosen Rikscha-Kulis ehrfürchtig Platz machen und hinterhersehen. Hansi fährt mit Ume und ihren Eltern zur Sommerfrische in die Berge, auf denen die Feuerlilien blühen, und er denkt sich dazu: »Fast wie daheim, nur wieder ganz anders, und doch auch schön.« An seinem Ferienort aber erlebt er ein Erdbeben, das die schöne Fremde über Nacht zum Alptraum macht. Zwar gelangen Hansi und Ume in überfüllten Zügen heil wieder in die große Stadt zurück, aber dort erwischt sie der Typhus und legt sie für viele Wochen ins Bett. So kommt es, daß Hansi einen Teil seiner Zeit im fernen Land verschläft. Ganz unglücklich ist er darüber nicht, denn jetzt ist ja auch die Heimkehr um so vieles näher gerückt. Ich aber, der kleine Leser, hatte inzwischen schon fast das Ende des zweiten Bandes erreicht, der den Titel trägt: Hand und Ume kommen wieder. Das taten sie, wirklich und
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