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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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finden, richtig wenigstens für mich selbst. Erfinden dürfte man die Japangeschichte nicht, an der ich als Lebender dichte; meine Bücher kommen mir dagegen wie die Entzifferungsversuche eines Menschen vor, der den Text, der ihm selbst eingeschrieben ist, noch weniger kennt als die japanische Schrift.
      Es ist lange her, daß ich zum letzten Mal in einem japanischen Garten gesessen bin; dabei konnte es vorkommen, daß ein Leben, in dem ich nicht mein eigenes erkannte, mich beim Blick auf einen verwitterten Stein durchfuhr, Gott weiß, wie weit her, und wo hinaus. Ich muß es nicht wissen; es ist genug, daß ich den Stein sehe. Wenn ich vorbei bin, ist er immer noch da.
      Den kleinen Garten vor unserem Haus in der Schweiz halten freundliche Besucher für japanisch; das weiß ich besser. Aber die Gärten sind verwandt kraft der Gegenwart ihrer Steine; sie bleiben, denn sie wissen vom Bleibenden nichts. Aber ich habe das Glück, diese Steine zu sehen; und sie haben die stumme Gnade, sich von mir anschauen zu lassen.

    Tsunami

      Kürzlich wußten unsere Katastrophenmelde-Dienste von einem Erdbeben im Norden Japans zu berichten. Da sich sein Epizentrum in der Japanischen See befand, hob es eine gewaltige Flutwelle auf, die als Sturzflut über die Küsten hereinbrach und besonders auf der Insel Okushiri Tod und Verderben anrichtete. In der Folge gab es Beschreibungen des Phänomens der Tsunami zu lesen, die sich, wie früher Taifun, Kamikaze (»Wind der Götter«) oder Harakiri (das die Japaner nicht brauchen) als Lehnwort international eingebürgert hat. Die Erdbebenfluten laufen, auf offener See fast unbemerkt, mit fabelhafter Geschwindigkeit zwischen entfernten Ozeanküsten hin und her. Im unmittelbaren Wirkungsbereich erlauben sie wenigstens der beweglichen Kreatur, sofern die Zeit zur Warnung ausgereicht hat, die Flucht in höhere Lagen, während keine Küstenbefestigung genügt, die Siedlungen dahinter vor dem Verschlungenwerden zu bewahren. Die japanische Überlieferung kennt viele Beispiele von Leuten, die, bereits in Sicherheit, im letzten Augenblick noch glaubten, einen Familienschatz – neuerdings: das Auto – oder einen angeketteten Hund retten zu müssen und zurückliefen, um sich unversehens der heranbrüllenden Wasser-Wand gegenüber zu finden, vor der es kein Entrinnen mehr gab. So wenig wie für landfremde Badegäste, die, Warnungen miß- oder gar nicht verstehend, den unerwartet menschenleeren Strand genossen.
      Als Gymnasiast hatte ich einen bekannten japanischen Farbholzschnitt über dem Bett aufgehängt: Hokusais »Große Woge«, die wie eine Löwenpranke von der linken Bildseite her zwei mit winzigen geduckten Menschen besetzten Booten entgegenschlägt. Das vordere durchsticht eine kleinere bergförmige Welle und stößt den Bug, wie eine Harpune, in den gebäumten Leib der riesenhaften, die den lästigen Stachel gleich unter ihrem dunklen, von Schaum zerfaserten Überhang begraben wird. Das zweite Boot schießt von rechts oben in die aufgerissene Tiefe, augenscheinlich dem gleichen Schicksal entgegen.
      Im Angehaltenen dieses furchtbaren Augenblicks bestand der abgründige Kitzel des Bildes. Es ließ mein Bett darunter zugleich als bedrohten und sicheren Platz erscheinen. Im Schutz der von fremder Kunst gebannten Mordswelle streckte ich mich in atemloser Geborgenheit aus.
      Sehr viel später, als ich der »Woge« in Museen und Sammlungen original begegnete, lernte ich ihren vollständigen Namen kennen: »Der Fuji, von Kanagawa aus betrachtet«. Natürlich hatte ich ihn schon früher bemerkt, den vollkommen symmetrischen Pyramidenberg, der sich, etwas rechts der Bildmitte, genau in der Fallinie des Wassersturzes erhob und seiner zugleich durch seine Entfernung und unendliche Entrücktheit zu spotten schien. Er war früher schon die zentrale Einzelheit, die Schlüsselfigur des Holzschnittes gewesen. Doch wie hätte ihn ein Jugendlicher, mitgefangen in der action des Vordergrundes, als unerschütterlichen Pol, als Fluchtpunkt der Veranstaltung sehen und deuten sollen? Aber nun war das Wellenungetüm also nichts weiter als Staffage, der aufspringende Rahmen für diesen einzigen und ewigen Berg.
      Mein Blick mußte älter werden, um besser zu sehen. Der Fuji thronte keineswegs unerschütterlich hinter dem Drama des Vordergrundes, diesen Exzeß turbulenter Vergänglichkeit. Er war vom gleichen Stoff wie sie. Hokusai hat nichts unterlassen, den Betrachter auf diese Gleichung
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