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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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es war weit her, aus dem Jenseits der Zeitungsmeldungen. Japan war im Krieg, so viel wußte ich, aber sein Wasserfall lag, schutzbedürftig und unzerstörbar, auf meiner flachen Hand, die sich bemühte kein Papierzähnchen zu krümmen.
      »Wasserfall in Nikko« stand im »Welt«-Katalog. Das hieß ja, daß ich von diesem Wasserfall sogar noch etwas mehr wußte. In Nikko war meine viel ältere Halbschwester als Hauslehrerin einer schweizerisch-japanischen Familie in der Sommerfrische gewesen – was für ein schönes Wort! Und jetzt lag die »Sommerfrische« vor mir auf dem Stubentischtuch, ringsum fein gezähnt, magisch verkleinert, dennoch wie durch einen Schleier gut zu erkennen als grüner (oder doch brauner?) Wasserfall. Und auch wenn er nur Fr. 0.01 wert war, so war er doch, für mich persönlich angekommen, die Botschaft, nicht ganz zu entziffern, aus meiner andern Welt, ein entferntes Familienbild.
      Ich bin Jahrzehnte später zweimal in Nikko gewesen. »Nikko sehen und sterben« verlangt die touristische Lesart. Ich habe es überlebt. Das chinesische Barock, der allgegenwärtige Zinnober der Tokugawa-Nekropole wäre ohne die mächtigen Fluchten der Zedernstämme schwer genießbar gewesen, Nikko kam mir wie ein verfrühtes Disneyland vor und wurde von den Besucherströmen auch so behandelt. Man muß sich die Nebel aus Kurosawa-Filmen dazu denken, um den Ort mit dem gewünschten Zauber auszustatten. Die »Sommerfrische« aber hatte, dank der Berglage, ihre Richtigkeit.
      Den Wasserfall habe ich, wie ich glaube, zu besuchen versäumt, sein Bild hat das Bildchen in meiner Kinderhand nicht gelöscht. Da fällt er noch immer unerschöpflich und verlegt sein verstummtes Geräusch an unerwartete Stellen: ich bemerkte erst während einer Lesung, daß ich meinen Roten Ritter an seinem Karfreitag unter eben diesen Wassersturz gestellt haben muß, nachdem er nackt genug geworden war für eine gründliche Erschütterung seines Lebens. Es war der Wasserfall auf jener Briefmarke, braun oder grün: das chiffrierte Familien-Bildchen.
      In Kyoto, der Stadt, in der meine Schwester in den zwanziger Jahren lebte, bin ich vierzig Jahre später zum ersten Mal gewesen. Da hatten die Dächer und Gärten, die unverhofften Durchblicke durch einen Bambuszaun auf eine Komposition von Stein und Blatt, nicht viel größer als eine Briefmarke, noch viel von ihrer Heimlichkeit bewahrt; vielleicht, weil mir die Jahre dazwischen, die Strapazen vieler Studien, in den fremden Gäßchen vergingen wie Ein Tag. Ich war in der Kinderstadt angekommen, sie war zum Greifen nah und verlor im Laternenschein doch nichts vom Schweigen ihrer Entfernung.
      Seither hat die gesetzliche Vorschrift, daß, wer in Japan ein Auto kauft, einen eigenen Parkplatz vorweisen muß, mit den geahnten Vorgärten, den unverhofften Durchsichten aufgeräumt. Wo man sie noch antrifft, sind sie Vorzeigestücke, Zitate traditioneller Gartenkunst. Die Finesse des Alltags, die dazu gehören würde, hat sich verflüchtigt im Reflex des Neonlichts auf den feisten Limousinenrücken. MiniaturWasserfälle sind zwischen Gion und Kiyomizu-Tempel in jedem Tea-Room zu besichtigen; inmitten der Schaumbläschen spielen gescheckte Zierkarpfen und lassen sich mit Krumen
    füttern.
      Es ist eine ausgestorbene Kunst geworden, den Wasserfall auf meiner dürftigen Briefmarke immer noch stürzen zu lassen, wohin er will. Er muß es inzwischen auch ohne Briefmarke tun, denn ich besitze sie längst nicht mehr. Über den damaligen Wert (Fr. 0.01) dürfte sie im Zuge der Inflation hinausgelangt sein, wenn auch nicht allzu weit. Sie war im Japan der Kriegszeit eine ordinäre Serienmarke, wie etwa gleichzeitig das Schloß Chillon (rot oder braun) auf unserer Insel-Schweiz. Würde ich immer noch Briefmarken sammeln, der Wasserfall wäre ganz leicht wieder beizubringen. Nur weiß ich, käuflich darf er mir nun nicht mehr sein.
      Der Sohn des Markenhändlers von damals hat meine Liebe aus der sechsten Klasse geheiratet. Er ist, wenn seine opulenten Auktionskataloge nicht täuschen, von den damals halb geschenkten »100 Verschiedene / Ganze Welt« nicht arm geworden.

    Hansi, Ume und ich

      Das erste richtige Buch, das ich – den Bilderbüchern entwachsen – als kleiner Junge gelesen habe, hieß: Hansi und Ume unterwegs. Zweihundert Seiten lang war ein Schweizer Lehrerssohn namens Hansi, wie ich einer war, auf der Reise in ein Land auf der andern Seite der Welt. Er hatte ein
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