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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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schien. Eine fruchtbare, eine furchtbare Art, Wahrheit zu stiften, nämlich die eigene und einzige; nur wahrzunehmen, was uns glich, und wahrzumachen, was uns paßte: so wie man ein Versprechen wahrmacht – und eine Drohung.
      Zipangu-Nippon, die Inseln, die Kolumbus auf seinem Weg nach Indien gesucht und nicht gefunden hatte, sollte der westlichen Wahrheitsfindung noch lange verschlossen bleiben. Und als sie davon berührt wurden, blieben sie in hohem Maße fähig, selbst zu bestimmen, wieviel davon sie vertragen konnten, zu ertragen bereit waren. Japan, heißt das, blieb länger »Fremde« für den Westen – ohne daß seine Eingeborenen darum unentwickelt blieben – ganz im Gegenteil. Das war eine Provokation – und sie hält an, bis auf diesen Tag.
       A riddle wrapped in a mystery inside an enigma – Churchills Japan-Bild in seiner Mischung aus Respekt und Unverständnis, Faszination und Widerwillen hatte ein langes Vorleben im Klischee der »Gelben Gefahr«, bevor es sich zum »Défi japonais« auswuchs und dabei nichts von seiner Unheimlichkeit verlor. Ein wilhelminisches Tableau zeigt den Kaiser in schimmernder Wehr als Fels gegen die drohende Brandung aus dem Osten. Diesmal muß das Abendland vor dem säbelschwingenden Buddhismus gerettet werden. Real an der absurden Ikone war das Trauma des europäischen Imperialismus, der 1905 in Dairen und Tsushima eklatante Niederlagen gegen eine bisher marginale »gelbe« Macht bezogen hatte – was man sich vorläufig nur mit deren stupender Fähigkeit zur Nachahmung westlicher Technik erklären konnte. Das nächste Klischee war in der Welt: das des unverschämten Lehrlings und professionellen Industrie-Spions, der durch Disziplin ersetzt, was ihm an Originalität abgeht.
      Dabei fuhr auch längst ein Gegenzug: die europäische Kunst hatte begonnen, die japanische nachzuahmen. Ein anmutiges Phantom verzauberte westliche Ateliers und Interieurs: der Japonismus. In den Reklamezetteln des Kabuki-Theaters entdeckte man eine neue Welt der Bilder; in Waffenkunst und Teezeremonie einen subtileren Sinn des Lebens.
      Im Zweiten Weltkrieg verbanden sich die drei Komplexe, der industrielle, der militärische und der ästhetische, zu jenem unbegreiflichen Phänomen, das Churchills Bonmot illustriert. Der blutjunge Zero-Fighter-Pilot, der zu Hause seinen Ahnen opfert und dann auf dem Kriegstheater sich selbst; der General, der ein 17-Silben-Gedicht über Wolken und Tau auf Reispapier tuscht, bevor er sich den Bauch aufschlitzt: dieses Japan schien ebenso unfaßbar wie die japanische Reaktion auf die Radiostimme des Tenno, die den Widerstand so plötzlich beendete, daß die auf alles gefaßten Amerikaner ins Leere stießen und ein Land betraten, das bereits zum Schulzimmer umgebaut war: da herrschten scheinbar eitel Höflichkeit und Lernbereitschaft. Damit nicht genug: im Schutz der Niederlage, im Schatten des Kalten Kriegs, doch von militärischem Aufwand entlastet, entwickelte sich dieses Japan zielsicher zur ersten Wirtschaftsmacht der Welt. Es eignete sich die Symbole westlicher Größe immer weniger symbolisch an: von den Sears Towers bis zu van Goghs Schwertlilien, von den Paramount Pictures bis zum Hotel »Vier Jahreszeiten«. Man begegnete ihnen jetzt überall auf der Welt, den japanischen Gesichtern – aber das japanische Gesicht schien unsichtbarer denn je.
      Und doch ist alles noch da: der Verdacht, es könne sich bei dieser phantastischen Aufholjagd um eine Art Kriegslist oder eine Fata Morgana handeln; als verstecke sich darunter ein anderes, das wahre Japan, eine zugleich disziplinierte und labile, jedenfalls unberechenbare Mutation der Menschheit, halb Roboter, halb Samurai. Dieses Japan, das seinen Computern Fuzzy logic beigebracht und seine siegreichen Autos damit bestückt hat, wirkt auf seine Betrachter selbst wie eine einzige von Energie flimmernde Unscharfe. Über kein Gastland der Welt sprechen niedergelassene Ausländer je länger, desto fasziniert-ratloser als über das Empire des signes, dessen Zeichen man offenbar nur mißdeuten kann. Japan scheint ein Objekt, das im strengen Sinn nicht »Gegenstand« werden will; eine Eigenschaft, die es teilt mit den Quarks einer submikroskopischen Physik, die sich wie ein Prozeßbericht ihrer eigenen Ratlosigkeit las – bevor sie, mit Hilfe der ChaosForschung, auf den zugleich phantastischen und schlichten Einfall kam, diese Eigenschaft hätten die Sub- und Transmaterien womöglich mit andern, ja mit
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