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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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allen lebendigen Formen gemein – mit einer Wolke, einer Küstenlinie, einem Blumenkohl oder einem Liebesgeflüster. Oder mit Japan.
      Bei dieser Revision einer Wahrnehmung darf man auch an eine klassische Definition des Witzes denken: Kants »Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts«. Und braucht dieses Nichts dann nur noch groß zu schreiben, um sich unvermittelt ins Zentrum fernöstlicher Weisheit zu versetzen. Churchills ärgerliches Bonmot wird beinahe adäquat – riddle wrapped in a mystery inside an enigma –, wäre nur die japanische Puppe eine russische Matroschka und nicht ein kompaktes – und undurchsichtiges – Kokeshi. Jeder JapanAugur lernt sie kennen, die höfliche Verblüffung, welcher seine Mutmaßungen über Japan begegnen. Das Lächeln dazu wird er immer weniger als Anerkennung mißverstehen. Eher verbirgt es Scham über unnötige Liebesmüh und überflüssige Indiskretion.
      Die Dinge so betrachten heißt offenbar: sie zu genau zu betrachten. In Japan ist man, wie mir scheint, besonders wenig auf Selbstreflexion erpicht. Es gehört dort zur Lebensart, einengende Fragen ebenso zu vermeiden wie sogenannte letzte Antworten – zumal in eigener Sache. Mehrdeutigkeit – Fuzzy logic – ist da zu lange also soziale Tugend eingeübt, der Landessprache zu tief eingefleischt; für das Ethos der Klarheit, das Pathos der Entscheidung fehlt das Organ. Das biblische Ja, ja; Nein, nein klingt in japanischen Ohren ebenso exotisch wie für unsereinen das japanische Problem, auf die Frage: Tee oder Kaffee? ohne Verlegenheit zu antworten. Entscheidungen trifft man nicht, sie müssen sich selbst gemacht haben, sonst stehen sie im Geruch von Willkür und Präpotenz. Man traut Yin, der Kraft, die gewähren läßt, nicht weniger zu als Yang, der Kraft handelnder Aktivität. Im Westen neigen wir dazu, an dieser Praxis des Fließ-Gleichgewichts zuerst Mangelhaftes zu bemerken – Mangel an Selbständigkeit, Individualismus, Charakter. Die japanische Insularität liefert uns dann den Passepartout dazu – das Kuriosum einer über ein Vierteljahrtausend kultivierten Isolation. Wir sehen nicht die Geborgenheit, eher die Gefangenschaft in einem Regel- und Normenwerk, das autonome Akte seiner Teilnehmer als Egoismus und Asozialität, als ein »Aus-dem-Rahmen-Fallen« bestrafte; in dem eigenmächtige Liebe so wenig tragbar war wie die falsche Farbe eines Kimonos.
      Das Kuriosum ist nicht zu leugnen – und die vielleicht größte Leistung seines Systems bestand wohl darin, daß es sich als System der Wahrnehmung seiner Teilnehmer entzog. Es war einfach die Organisation des Selbstverständlichen. Soweit der Austausch mit dem ganz Anderen – dem barbarischen Rest der Welt – unvermeidlich oder unerläßlich war, beschränkten ihn die Systemwächter auf eine künstliche Insel innerhalb des insularen Kosmos: Deshima, Exterritorium umd Ghetto zugleich, eine rationierte Außenwelt, welche die regulierte Innenwelt nicht überschwemmen durfte. Da verhandelte man mit ihr, und da kaufte man sich zugleich von ihr los. Zwar hat auch schon in der Feudalzeit – etwa im Kabuki, der Bühne der verachteten, aber reichen Händlerkaste – der Geist von unten gegen Reglement und Zensur aufbegehrt. Aber er suchte seine Zuflucht in keinem Bürgerrecht, sondern im Recht zu eigenem Gefühl. Klage über die Vergänglichkeit alle Blütenträume, aber nicht die Rechtsklage des Barbiers von Sevilla. Die einzige Systemfreiheit war diejenige, die sich selbst sühnte – etwa im gemeinsamen Selbstmord der Liebenden. Wo die westliche Aufklärung die Freiheit zu ihrer Ultima ratio erklärt, erhebt sich in Japan die Größe des Todes – aber auch der sogenannte Freitod zeugt immer noch weniger von Freiheit als von Verpflichtung und Schuldigkeit.
      Inzwischen ist sie zweimal untergegangen, diese keineswegs heile, aber in ihren Spannungen kontrollierte, ihre Konflikte ausbalancierende Welt: einmal nach der Landung der Schwarzen Schiffe Commodore Perrys vor bald 150 Jahren; dann mit der Kapitulation im August 1945. Aber Japan ist untergegangen nicht wie eine »Titanic« im offenen Meer, das keinen Fehler verzeiht, sondern eher wie ein Land bei Überschwemmung, aus der es keineswegs als dasselbe und doch als das gleiche immer wieder auftaucht: von den Katastrophen eher befruchtet als zerstört. Der Eklat löste aus – oder beschleunigte gar – einen Prozeß, auf den die kulturelle Tiefenstruktur vorbereitet gewesen sein muß; denn
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