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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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Ausland gewesen war, jetzt aber eine wohlgeordnete Verheiratung seiner Schwester für angebracht hielt. Er führte den Mann, den er im Auge hatte, als seinen Freund zu Hause ein; sie redete ihn in dieser Eigenschaft an, nämlich mit der japanischen Sie-Form, »Anata«. Allmählich zeichnete sich die Heirat als beschlossene Sache ab. Und nun hatte die junge Frau plötzlich das Problem, daß sie nicht mehr wußte, wie sie ihren Zukünftigen anreden sollte.
      Wie sie ihn denn als Ehefrau anreden würde? »Anata!« lachte sie. Gut, wo war das Problem? Da zeigte sich, daß das bisherige »Anata« etwas wie unbefangene Kameradschaft signalisiert hatte, mit der sie die männliche Vertrautheit des Bruders mit seinem Freund übernahm. Begann er sich nun aber als ihr Zukünftiger abzuzeichnen, war das kumpelhafte »Anata« nicht mehr erlaubt, das formal-ehrerbietige der Ehefrau aber noch nicht. Für den Paradigmenwechsel des Verhaltens gab es plötzlich keine Anredeform mehr; also bemühte sie sich, die Anrede einstweilen überhaupt zu vermeiden.
      (Vor ein paar Wochen hatte sie noch mehr oder minder fröhlich das dating auf einem kalifornischen Campus mitgemacht.)

    24

      Natürlich gibt es auch in europäischen Systemen Äquivalente für ein solches Dilemma der Zeichensetzung. Nur: in Japan fallen sie, bei der extremen Regelungsdichte und dem Reichtum sozialer Differenzierung, als Exotika auf.
      Die Schwierigkeiten beim Erlernen des Japanischen – obwohl schon im Elementaren beträchtlich, denn kein tieferes Verständnis führt an der Schrift vorbei – liegen weniger beim nur Sprachlichen als bei dessen sozialer Nuancierung. Die wenigen Nichtjapaner, die das Japanische wirklich beherrschen, können einen Kommunikationsschock auslösen. Wie kann jemand als Teil eines Systems auftreten ohne die zugehörige Physiognomie?
      Die Japaner trauen sich zu, Tolstoj oder Grass zu verstehen; daß ein Ausländer die Haikus des Bashō – oder den »japanischen Shakespeare« Chikamatsu – verstehen kann, nehmen sie im Ernst nicht an. Im Grund gehen sie von der Unvermittelbarkeit ihres insularen Sonderfalls aus.
      In einer Hinsicht ist das offene, »wolkige« System an Trennschärfe gewöhnt: es setzt das familiäre »Drinnen« vom förmlichen »Draußen« ab und hat für beides unterschiedliche Erwartungen und Verhaltensnormen entwikkelt. Es gibt einen Grenzfall – der nicht umsonst stark tabuisiert ist –, wo die japanische Gesellschaft am Ab- und Ausgrenzen auch da festhält, wo ihr Auge sie im Stich läßt und sie nur auf das Vorurteil bauen kann. Ich rede von der Disqualifikation der Burakuin, einer Paria-Kaste, die, auch wo sie nicht mehr im Ghetto leben muß, durch die (historische) Ausübung »unsauberer« Berufe als gezeichnet gilt, obwohl sie sich durch kein erkennbares Zeichen von den übrigen Japanern unterscheidet. Es mag einem Burakuin eine Zeitlang gelingen, sich in anderen (sogar akademischen) Berufen zu verstecken, aber wehe ihm und seiner Zukunftschance, wenn er enttarnt wird. Was in einer Gesellschaft, wo der »Familienstammbaum« das Zivilregister ersetzt, jederzeit vorkommen kann. Auch eine Japanerin, die einen Ausländer heiratet, wird aus ihm gestrichen.

    25

      Soziale Rollen sind in Japan nicht zum Ausprobieren da; an ihnen haftet die Identität.
      Als ich zum ersten Mal Kurosawas Rashōmon sah, die mehrfach – und ganz unterschiedlich – erzählte Geschichte des reisenden Ehepaars, das von einem Räuber überfallen wird, las ich die Botschaft des Films mit westlichen Augen. Die Frage, um die er sich in dreifacher Perspektive zu drehen schien, war für mich die des Pilatus: Was ist Wahrheit? Eine moralische und eine erkenntnistheoretische Frage – ihre Spannung hängt am Grundsatz ihrer Entscheidungspflichtigkeit. Ein Gericht müßte die Tatsachen feststellen und zu einem Urteil kommen.
      Nach dem Wiedersehen des Films glaube ich gar nicht mehr, daß er von diesem Interesse geleitet war. Die Behauptung, daß die Realität gestatte, unsere Taten und Leiden zu identifizieren, daß unsere Identität überhaupt eine feste Größe sei, wäre voreilig. Die Optik des Films ist die des flirrenden Laubs, dessen Helldunkel vom selben Stoff ist wie die Personen, die dann auftauchen und untergehen. Der Gestus der »Feststellung« stimmt nicht zum Aggregatzustand der Welt, dieser »dahintreibenden Welt« (die Übersetzung des japanischen Worts für den Farbholzschnitt, dessen zentraler Topos
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