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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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sexueller Scham.

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      Das reinste der Gefühle, der vollkommene Ausnahmezustand in Japan: die Natur. Daß ihre Repräsentation wahre Exzesse von Künstlichkeit nicht nur erlaubt, sondern erfordert – vom Bonsai bis zum Ikebana –, scheint uns merkwürdig. Dem Japaner fällt es nicht auf; sein Auge hält fest an der Unschuld dessen, was er sieht und sehen will. Er scheint der Natur gegenüber zu keinerlei Distanz fähig, auch nicht der Ironie –
      Gute Filme werden buchstäblich schwach vor der Natur. Oshimas Merry Christmas, Mr. Lawrence schwelgt bei der Rückblende in die englischen Jugendgärten des Helden im Kitsch weichgezeichneter Paradiese; Imamuras Lieder von Narayama schneiden in die grandiose Landschaft der zum Sterben ausgesetzten alten Leute plötzlich Vögelchen und Eichhörnchen hinein, versetzen die Ballade des Elementaren mit einem Hauch von fairy tale und Disneyland. Der magisch dampfende Zedernhain, aus dem Kurosawas Dreams den Hochzeitszug der Füchse auftauchen läßt, hat die optische Unschuld der Kinderaugen, die auf das Schauspiel starren: obwohl nur die Hälfte der gewaltigen Stämme gewachsen, die andere Hälfte aber aufgebaut ist. Der körperliche Einstieg des japanischen Kunst-Gullivers in van Goghs Landschaftsbilder: einer der raren Fälle, wo der Film seine Identifikation mit der »Natur« als einen artifiziellen, sentimentalischen oder einfach: sentimentalen Prozeß deklariert.

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      Mein Eindruck, daß auch die in Japan allgegenwärtige »westliche« Musik den Ausnahmezustand des Gefühls symbolisiert, einen offenen Raum, in dem alles geht, ein Kinderparadies (wenn auch nicht für die unerbittlich zum Üben angehaltenen Kinder). Ist es wahr, daß sich Kurosawa von seinem Komponisten zu Ran eine Musik »wie von Mahler« ausgebeten hat? So, mit Verlaub, klingt sie auch – bis in die »Dreams« hinein, wenn der wohllautende Schmus im westlichen Ohr die Größe der Vision unterspült.
      Was hören die Japaner, wenn sie »unsere« Musik hören, so viel gewohnheitsmäßiger als wir, und an Orten, wo sie bei uns nie hinreicht, vom Warenhaus, bis zum »Café Beethoven«? Sie beschämen uns mit der Breite und Tiefe ihrer Praxis westlicher Musik, und daß eine höhere Tochter ein Instrument gut spielt, gehört einfach zu ihrer Grundausstattung. Aber dann: »Eine Musik wie von Mahler«?
      Nicht einmal Hollywood würde einem guten Filmhandwerker »einen Film wie von Kurosawa« abverlangen. In diesem Zusammenhang: nichts gegen Hollywood, mit dem für Kurosawa zwar oft alles schiefgegangen ist (Tora! Tora!), ohne das aber gar nichts gegangen wäre. Japans Filmindustrie jedenfalls ist nicht schuld, daß es Kagemusha oder Ran trotzdem gibt –

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      Sobald das japanische Sensorium die ungeschriebenen Regeln seiner Ästhetik verläßt und sich auf »internationalen« Boden begibt: wohin gerät es da? Von überzeugenden Mutationen wie Kenzo Tange oder Issei Miyake abgesehen: wie schwerfällig die Aufholjagd nach der Guten Form, dem inspirierenden Design (wofür der Westen seinerseits so viele Inspirationen aus dem klassischen Japan bezogen hatte): wie unsicher noch immer der Geschmack »westlich« gemeinter Räume. Wie erstaunlich die Anfälligkeit der Japaner für den vulgären, ja brutalen Effekt, für den schlichten Kitsch. –
      Sind das die Stellen, wo der zum Massenprodukt heruntergekommene Traum vom Paradies, die Verallgemeinerung der Ausnahme zum Konsumgut, das hohl und unverbindlich Gewordene der Regel offenlegt?

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    Aber: Seit über hundert Jahren hat Japan die Moderne nach seinen eher als nach ihren Gesetzen importiert, und auch ihre Zwänge mußten lernen, sich seinen Regeln zu fügen. Diese brauchen nicht ausgesprochen zu werden, da sie in Hunderten von Jahren der Isolation Fleisch und Blut geworden sind. Ihre Differenzierung zum sozialen Kunstwerk ist erstaunlich: genial
    ist ihre Flexibilität, ihre Dauer im Wechsel.
      Das Geheimnis des Systems sitzt nicht in seiner Struktur, sondern in seiner Fähigkeit, Räume offenzulassen. Die japanische Sprache definiert nicht. Sie stellt anheim.
       Fuzzy logic, in Amerika erfunden und nicht weiter verfolgt, wird in Japan zur Basis einer neuen Computergeneration entwickelt. Das heißt, die Unschärferelation der modernen Physik wird industriell genutzt. Die Maschine trifft ihre Entscheidungen nicht mehr aufgrund binärer Schritte – 0 oder 1, Jacke oder Hose, Er oder Ich. Sie setzt sie aus dem Material
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