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Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau
Autoren: H. G. Wells
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schlanke Rauchsäule schrumpfte in der Hitze des Sonnenuntergangs zu einer immer dünner werdenden Linie zusammen. Der Ozean stieg rings um mich und verbarg jenen niedrigen, dunklen Fleck vor meinen Augen. Das Tageslicht, die Glorie der Sonne, strömte zögernd aus dem Himmel ab, wurde wie ein leuchtender Vorhang beiseite gezogen, und schließlich blickte ich in jenen blauen Abgrund der Unendlichkeit, den der Sonnenschein verbirgt, und sah die schwebenden Scharen der Sterne. Das Meer war still, der Himmel war still; ich war allein mit der Nacht und der Stille.
    So trieb ich drei Tage lang, aß und trank sparsam, sann über alles nach, was mir begegnet war, und wünschte gar nicht sehr, wieder Menschen zu sehen. Ein einziger unsauberer Fetzen hing an mir herab, mein Haar war ein dichtes Gewirr. Ohne Zweifel hielten meine Retter mich für einen Wahnsinnigen. Es ist seltsam, aber ich empfand keinen Wunsch, zu den Menschen zurückzukehren. Ich war nur froh, von der Scheußlichkeit der Inselungeheuer fort zu sein. Und am dritten Tag las mich eine Brigg auf, die von Apia nach San Francisco unterwegs war. Weder der Kapitän noch der Maat wollten meine Erzählung glauben, und sie meinten, Einsamkeit und Gefahr hätten mich um den Verstand gebracht. Und aus Furcht, andere würden derselben Meinung sein, erzählte ich mein Abenteuer nicht weiter und sagte, ich erinnerte mich an nichts, was mir zwischen dem Untergang der Lady Vain und dem Zeitpunkt, an dem ich aufgefischt wurde, zugestoßen war.
    Ich mußte mit äußerster Umsicht handeln, um mich vor dem Verdacht des Wahnsinns zu bewahren. Die Erinnerung an das Gesetz, an die beiden toten Seeleute, an die Hinterhalte des Dunkels, an die Leiche im Schilf verfolgte mich. Und so unnatürlich es scheint, mit meiner Rückkehr zu den Menschen verstärkten sich nicht Zuversicht und Sympathie, die ich erwartet hatte, sondern jene Ungewißheit und Furcht, die ich während meines Aufenthalts auf der Insel erlebt hatte. Niemand wollte mir glauben, ich kam den Menschen beinahe so wunderlich vor, wie ich dem Tiervolk vorgekommen war. Ich habe vielleicht von der natürlichen Wildheit meiner Gesellschaft einiges angenommen.
    Man sagt, die Angst sei eine Krankheit, und in gewisser Weise kann ich bezeugen, daß nun seit mehreren Jahren eine rastlose Furcht in meinem Geiste wohnt, eine rastlose Furcht, wie sie etwa ein halbgezähmtes Löwenjunges fühlen mag. Meine Störung nahm die seltsamste Form an. Ich konnte nicht wirklich glauben, daß die Männer und Frauen, denen ich begegnete, nicht auch nur Angehörige eines anderen, noch erträglich menschlichen Tiervolks waren, Tiere, die ebenfalls alsbald zurückgleiten müßten, erst dieses tierische Anzeichen zeigen würden und dann jenes. Aber ich habe meinen Fall einem sehr fähigen Mann anvertraut, der auch Moreau gekannt hatte und meiner Geschichte halb zu glauben schien, einem Spezialisten für Geisteskrankheiten - und er hat mir sehr geholfen.
    Obgleich ich nicht erwarte, daß mich das Grauen jener Insel jemals ganz verlassen wird, so liegt es doch meistens weit im Hintergrunde meines Geistes - als eine bloß ferne Wolke, eine Erinnerung an ein schwaches Unbehagen; aber manchmal kommen Zeiten, da breitet sich die kleine Wolke aus und verdunkelt den ganzen Himmel. Dann sehe ich mich nach meinen Mitmenschen um. Und ich gehe in Furcht einher. Ich sehe scharfe und helle Gesichter, andere stumpf oder gefährlich und wieder andere unstet und unaufrichtig; keine, die die ruhige Herrschaft einer vernünftigen Seele verraten. Ich habe die Empfindung, als steige das Tier in ihnen empor, deutlicher noch als bei den Bewohnern der Insel. Ich weiß, daß dies eine Täuschung ist, daß diese Männer und Frauen um mich wirkliche Männer und Frauen sind, immer Männer und Frauen waren, völlig vernünftige Wesen, erfüllt von menschlichen Wünschen und zärtlicher Sorge, vom Instinkt losgelöst und nicht etwa Sklaven eines beliebigen Gesetzes - ganz andere Wesen als das Tiervolk. Und doch schrecke ich vor ihnen zurück, vor ihren neugierigen Blicken, ihren Fragen und ihrer Hilfe; und ich sehne mich von ihnen fort und möchte allein sein.
    Aus diesem Grunde lebe ich nahe am weiten, freien Unterland, und ich kann dorthin entfliehen, wenn diese Wolke über mir ist; und dann erscheint mir das Unterland unter dem windgepeitschten Himmel lieblich und frisch. Als ich in London lebte, war das Grauen nahezu unerträglich; ich konnte den Menschen nicht entkommen;
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