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Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau
Autoren: H. G. Wells
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wie er gerade auf den Zehen und Fingerspitzen lief und ganz außerstande war, sich wieder aufzurichten. Sie bewegten sich unbeholfener, tranken schlürfend, aßen nagend, wurden mit jedem Tag gemeiner. Ich verstand besser denn je, was Moreau mit »zäher Tiernatur« gemeint hatte. Sie wurden wieder zu Tieren, und zwar sehr rasch.
    Einige von ihnen - die Pioniere waren, wie ich mit einiger Überraschung bemerkte, lauter Weibchen - begannen den Anstand zu mißachten - zumeist absichtlich. Andere verstießen sogar öffentlich gegen die Institution der Monogamie. Die Tradition des Gesetzes verlor sichtbar an Kraft. Mein Hundemensch wurde unmerklich immer mehr wieder zum Hund; Tag für Tag wurde er stummer, behaarter. Ich merkte den Übergang vom beinahe menschlichen Gefährten an meiner Seite zum schnappenden Hund kaum. Da die Gleichgültigkeit und Desorganisation von Tag zu Tag zunahm, wurde die Schlucht mit ihren Wohnungen, die nie sehr sauber gewesen waren, so ekelhaft, daß ich sie verließ, über die Insel ging und mir mitten in den Ruinen von Moreaus Behausung aus Zweigen eine Hütte baute. Die Erinnerung an den Schmerz, fand ich, schützte den Ort am besten vor dem Tiervolk.
    Es wäre unmöglich, jede Phase der Rückwandlung dieser Ungeheuer im einzelnen zu schildern; zu erzählen, wie sie Tag für Tag die Ähnlichkeit mit dem Menschen verloren; wie sie die Bandagen und Hüllen abwarfen und schließlich jeden Fetzen von Kleidung fallen ließen; wie sich das Haar auf ihren entblößten Gliedern auszubreiten begann; wie ihre Stirnen niedriger wurden und ihre Gesichter vortraten; wie mir die quasimenschliche Vertrautheit, die ich in den ersten Monaten meiner Einsamkeit gegenüber einigen von ihnen empfunden hatte, in der Erinnerung ein Greuel wurde.
    Der Wandel war langsam und unaufhaltsam. Für sie wie für mich kam er ohne bestimmten Anstoß. Ich bewegte mich noch immer ungefährdet unter ihnen, weil die Rückverwandlung in das Tierische so allmählich vor sich ging. Aber ich begann zu fürchten, daß der letzte, entscheidende Ruck nun bald kommen müsse. Mein Bernhardinermensch folgte mir zur Ummauerung, und seine Wachsamkeit ermöglichte es mir, zuzeiten beinahe in Frieden zu schlafen. Das kleine Faultierwesen wurde scheu und verließ mich, um noch einmal zu seinem natürlichen Leben unter den Baumzweigen zurückzukehren.
    Natürlich entarteten diese Geschöpfe nicht zu solchen Tieren, wie der Leser sie in zoologischen Gärten gesehen hat - zu gewöhnlichen Bären, Wölfen, Tigern, Ochsen, Schweinen und Affen. Immer noch hatte ein jedes etwas Fremdartiges an sich; in jedem hatte Moreau ein oder mehrere Tiere miteinander verschmolzen; eins war vielleicht hauptsächlich bärenartig, ein anderes katzenartig, ein drittes stierartig, aber jedes war mit anderen Geschöpfen vermischt - eine Art allgemeinen Tierseins drang aber durch die spezifischen Anlagen hindurch. Und die schwindenden Anzeichen des Menschlichen erschreckten mich immer noch hin und wieder, vielleicht ein momentanes Wiedererwachen der Sprache, eine unerwartete Behendigkeit der Vorderfüße, ein erbärmlicher Versuch, aufrecht zu gehen.
    Auch ich muß seltsame Wandlungen durchgemacht haben. Die Kleider hingen in gelben Fetzen an mir herab, durch deren Risse die wettergegerbte Haut leuchtete. Mein Haar wurde lang und verfilzte sich. Man sagt mir, meine Augen hätten noch immer einen seltsamen Glanz, seien wachsam und flink.
    Zuerst verbrachte ich die Tagesstunden am südlichen Strand, wo ich nach einem Schiff ausschaute, auf ein Schiff hoffte und um ein Schiff betete. Ich rechnete darauf, die Ipecacuanha werde im Lauf des Jahres zurückkommen, aber sie kam nicht. Fünfmal sah ich Segel und dreimal Rauch, aber nie streifte ein Schiff die Insel. Ich hatte stets ein Feuer bereit, aber ohne Zweifel erklärte man es sich, sofern man es sah, immer mit dem vulkanischen Charakter der Insel.
    Erst im September oder Oktober begann ich daran zu denken, ein Floß zu bauen. Mittlerweile war mein Arm geheilt, und ich konnte wieder beide Hände gebrauchen. Zuerst fand ich meine Hilflosigkeit entsetzlich. Ich hatte nie Zimmermannsarbeit oder dergleichen getan, und ich verbrachte Tag um Tag damit, Holz zu fällen und zusammenzubinden. Ich hatte keine Taue und fand nichts, womit ich Stricke hätte machen können; keines der zahlreichen Schlinggewächse war geschmeidig und stark genug, und all meine wissenschaftliche Bildung half mir nichts. Ich verbrachte mehr als zwei
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