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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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Ich mache mir Sorgen.« Sie stellte die Kanne ab. »Seit Tagen sitzt du in deinem Zimmer. Geh hinaus an die Luft. Lass uns nach dem Essen auf den Wall gehen, ja?«
    Almut strich ihm über den Kopf. Die Krähen krallten ihre Füße in seinen Schädel und krächzten. Auslöschen! Auslöschen! Andreas Hartmann wischte mit den Händen über seinen Kopf, verjagte die Leichenvögel.
    »Weg! Weg!«, rief er, »ich kann das nicht ertragen!«
    In seinen Augen leuchtete etwas Unheimliches. Almut erschrak. Jäh zog sie die Hand zurück. »Trink den Tee, Andreas, du musst zur Ruhe kommen.«
    Andreas Hartmann fühlte sich wie ein Schatten, der den Tod mit sich trug. Panik erfasste ihn. Er wusste, was Angst war, aber diese Angst, die da in ihm aufbrach, die war unbenennbar, unbegreiflich. Er rannte aus dem Zimmer, die Treppen hinunter, riss im Laufen seinen Mantel vom Haken und stürzte auf die Straße. Auslöschen! Der Gedanke huschte umher, setzte sich wie klebriger Leim in ihm fest. Er beschleunigte seinen Schritt, aber der Todesschatten folgte ihm. Oder folgte er sich selbst? Plötzlich lachte er auf. Ein Traum, es ist alles ein böser Traum. Ein Hirngespinst. Almut hatte recht. Er musste sich ausruhen. Ruhen. Ruhen.
    Die Gedanken flirrten. Sein ganzes Leben war ein böser Traum. Tragisch, düster, der Traum eines dem Tode Geweihten, dem es weder gelingt zu leben, noch zu sterben. Das war sein Unglück, sein Verhängnis.
    Keike, Keike!, schrien die Krähen. Auslöschen! Auslöschen! Traum, alles nur ein Traum. Er blickte sich ängstlich um, fürchtete, dass jemand in seinen Kopf schauen konnte. Aber niemand schien etwas zu bemerken. Niemand konnte einen Traum ergründen. Ein Traum war ein Geheimnis. Er träumte den scheußlichsten, düstersten Traum aller Träume. Er fühlte sich beschmutzt, verderbt.
    Sein Hirn grübelte weiter. Wie? Wie sollte er es anstellen? Er wollte nicht, dass es grübelte. Er schlug mit den Händen um sich, um die Krähen zu verscheuchen, aber sein Widerstand war zwecklos.
    Ein Sonnenstrahl zerspaltete die dichte Wolkendecke, schoss wie ein Schwert auf die Erde nieder. Er spießte eine Krähe nach der anderen auf. Andreas Hartmann spürte das wärmende Sonnenlicht auf seinem Antlitz. Er kehrte zurück aus dem Folterkeller der Fantasie. Es war vorbei. Er war der finstersten Höhle entkommen. Die Sonne hatte den Spiegel seiner Seele zersplittert.
     
    H
     
    Die Seele der Irren ist nicht wahnsinnig. Die Seele ist gezwungen, auf die Bilder zu achten, die die Spuren ihres Gehirns in ihr bilden. Ein Wahnsinniger ist ein Kranker der am Hirn leidet, wie der Gichtkranke an den Händen und an den Füßen leidet. Obwohl Andreas Hartmann seinen gesunden Menschenverstand verloren hat, ist seine Seele ebenso geistvoll, rein und unsterblich wie die unsere, aber unsere ist wohl, seine schlecht untergebracht. Die Fenster seines Hauses sind verstopft. Seiner Seele fehlt die Luft, sie erstickt.
     
    H
     
    Sie saßen bei Tisch. Andreas Hartmann war fröhlicher Stimmung. Seit Langem hatte er sich nicht so munter gefühlt. Er nahm Almuts Hand in die seine. »Ich werde dich und die Kinder bald sehr glücklich machen.«
    »Kann ich glücklicher sein, als ich bin, Andreas? Wir sind alle wieder gesund und wir leben ohne Kummer und Brotsorgen.«
    »Dennoch sollst du bald vollkommen glücklich sein«, Andreas Hartmann richtete die Augen zum Himmel.
    Almut betrachtete ihn mit Skepsis. »Du siehst heute wieder sehr mitgenommen aus. Hast du deinen Tee getrunken?«
    »Ja, Liebes.«
    »Gehen Sie heute Nachmittag mit mir zum Hafen, Vater?«
    »Warum nicht, Hannes?«
     
    Die Nacht brach herein. Er lag neben Almut und war in Gedanken bei Keike. Ich bin krank, dachte er. Aber ich bin ja selbst schuld. Es ist eine widerwärtige Krankheit, denn sie führt nicht zum Tod. Es ist eine Krankheit, die mich nicht leben und nicht sterben lässt. Das Elend fühlt sich in mir zu Hause. Sei dankbar, Andreas. Möchtest du mit denen tauschen, die einfältig herumlachen, die dumm und hohl in die Welt grinsen und denken, dass sie sich amüsieren, die behaupten, dass ihre Seelen rein und sauber sind, die beten und glauben, dass sie dadurch gute Menschen sind?
    Eine Krähe setzte sich auf seinen Kopf. Tu es! Tu es! , krächzte sie. Du tust recht. Du möchtest aus deiner Haut heraus , raunte der Kerl hinter ihm. Nicht einmal der Teufel möchte da drinstecken. Du willst deine Vergangenheit auslöschen . Tu es endlich! , schrien die Krähen.
    Andreas
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