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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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Gute Reise, Vater, du wirst in den Himmel kommen. Mir bleibt nur die Hölle.
    Sie schöpfte ein paar Kellen Wasser aus der Regentonne in die Schüssel, nahm einen Lappen, kehrte in die Kammer zurück und wusch seinen Leichnam. Dann ging sie die Kinder wecken. Marret und Göntje hatten ihn geliebt, wie er war. Sie würden viele Tränen für ihn haben.
    Stine und Medje kamen. Sie halfen, alles herzurichten, verhängten alle Möbel mit weißem Leinentuch, holten den Pastor, bestellten einen Sarg. Eine Holzkiste aus Wrackholz. Mehr konnte sie nicht bezahlen. Sie nahmen Göntje und Marret mit. Die Mädchen sollten bei Stine schlafen, damit sie sich in der Nacht nicht fürchteten.
    Der Sarg kam. Die Männer legten den Schwiegervater hinein und bahrten ihn auf. Keike zog das Bett ab, entfernte auch die verschlissene Matratze. Als sie die Holzrahmen ausseifte, hakte der Lappen unter einer Querstrebe fest. Sie schaute nach, sah ein Päckchen in braunes Wachspapier gewickelt. Sie zog daran. Es ließ sich nicht entfernen. Keike fühlte, dass es mit zwei Nägeln befestigt war. Sie holte Werkzeug, löste die Nägel und nahm das Paket an sich, betastete es. Es hatte keine scharfen oder harten Kanten. Vielleicht waren es Briefe. Sie schlug das Papier auf. Ihr Atem stockte. Geld. Das Paket enthielt Geld, Hunderte von Banknoten. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. Das war mehr Geld, als sie jemals gesehen hatte. Das war mehr als die Heuer von mehreren Jahren. Wieso hatte er das Geld versteckt? Sie hätten es dringend benötigt. Keike blätterte in den Banknoten, schnupperte an den Scheinen.
    Sie musste an Mette denken. Sie war vor vielen Jahren mit ihrem Mann nach Kalifornien gegangen, um Gold zu schürfen. Als ihr Mann gestorben war, kehrte sie mit ihrer Tochter zurück auf die Insel. Sie hatte Goldnuggets mitgebracht, das Haus vom alten Hansen gekauft und dort eine Hökerei und eine Schankstube eingerichtet.
    Es war ein schöner Laden, mit Holzregalen und Schubladenschränken. Die Griffe waren aus weißem Porzellan. Einen Vitrinenschrank besaß sie auch. Und einen Tresen natürlich.
    Keike legte die Hand auf ihren leicht gewölbten Bauch. In der anderen spürte sie das raue Papier der Banknoten an den Fingerkuppen. Die Stimme des Pastors bohrte sich in ihre Ohren. In den letzten dreißig Jahren gab es nur ein uneheliches Kind auf der Insel. Gott wird es uns danken, ihr sittsamen Frauen , Gott wird es uns danken , echote es. Sie sah Rike in ihrer Hütte sitzen, dann Phines Grab vor sich. Und Andreas, wie er sie küsste. Keike verdrängte ihre Tränen. Beherzt wickelte sie das Geld ins Papier zurück und steckte es in ihre Schürzentasche. Es gibt so viele Träume wie Sandkörner in den Dünen, und in jedem Sandkorn keimt ein weiterer Traum, dachte sie. In jeder Pore ihrer Haut, jedem Winkel ihres Körpers war ein Sandkorn versteckt. Es wohnte zwischen den Zehen, unter den Nägeln und an den Haarwurzeln. Die Traumkörner kitzelten in den Ohrmuscheln, juckten an den Nasenwänden. Sie hockten in den Mundwinkeln und zwischen den Zähnen.
     
    »Ich bin ein Sturmkind«, flüsterte Keike. Und sie wirbelte den Traumsand auf. Die alten Spuren verflüchtigten sich, die Kerben verwischten. Sie blies die Körner in die Lüfte, trug sie über den Ozean, um neue Traumsamen zu sähen. Ein Sandkorn war sie selbst.
     
    H
     
    Februar 1870. Am 11. Februar erwachte Hartmann mit schlechter Laune. Er sprach mit sich selbst, behauptete Stimmen zu hören und jene Frau zu sehen, die er als sein Unglück bezeichnete. Er fluchte gegen diese Frau, knirschte mit den Zähnen und bedrohte sie. Nach fünf Stunden der Erregung mit anscheinenden Halluzinationen beruhigte er sich. Später erklärte er auf Befragen, dass er starkes Kopfweh habe, und behauptete, sich an nichts zu erinnern. Er bat um Entschuldigung, falls er vielleicht jemand angegriffen haben sollte.
     
    März. Immer ruhig; hatte keinen aggressiven Anfall mehr. Er sprach mit seiner Frau, empfahl ihr, guten Mut zu haben, da er zufrieden sei. Er fügte hinzu: »Sei unbesorgt und denke, dass ich bald komme. Ich küsse und segne meine Kinder.«
     
    Am 14. gegen Abend war er sehr schlechter Laune; er sprach mit sich selbst, wie gewöhnlich; er fluchte gegen die besagte Frau und schlief sehr wenig. Am 15. war er niedergeschlagen, lief im Zickzack auf dem Hof umher, weinte, sagte, dass sein Nervensystem in Aufregung sei und dass er Ruhe brauche. Kurz darauf folgte ein Anfall, der in Schreien und Lärmen
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