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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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heiligen Tempel in dem Herrn. Ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause, Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das verkünden soll die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Ihr seid das Licht der Welt. So lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Herr, Gott, wir loben dich. Schiffer, oh freue dich, jetzt naht die Hilfe! Amen!«
    Das Musikkorps spielte Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten.
     
    H
     
    Andreas Hartmann erklomm Stufe für Stufe des Leuchtturmes. Er öffnete die Tür zur Wärterstube. Von da aus kletterte er die Holzstiege zur Lampe empor, trat auf den Umgang hinaus. Der Wind blies kräftig. Er wickelte seinen Schal fester um den Hals, kreiste einmal um den Turm herum. Die Sicht war prächtig, aber er nahm die klaren Konturen und Farben nicht wahr. Seine Gedanken führten ihn nach innen. Und sein Inneres glich einer dunklen Kammer. Er verließ die Galerie, zog sich in den Turm zurück, um die Dämmerung abzuwarten. Er blickte durch das Fensterglas über Insel und Meer. Ein Stich in seinem Herzen zuckte auf wie ein Blitz. Es schmerzte, als pickte ihm eine Möwe mitten ins Zentrum. Sein Herz begann, unregelmäßig zu schlagen, setzte gelegentlich aus, so, wie das Meer für eine Zehntelsekunde zum Stillstand kam, um danach die nächste Woge hervorzubringen. Tausend Irrlichter tanzten vor ihm, verschwommene Lichtpunkte, die immer näher kamen und vor seinem Gesicht herumsprangen. Sie setzten sich auf seine benetzten Wangen und verglühten mit einem kurzen Zischen im Meer der Traurigkeit, im Meer der Zukunft, die keine Zukunft war. Wenn Hannes oder Almut stürben, könnte er nicht weiterleben. Gott allein wusste, warum er so bestraft wurde.
    Die Dunkelheit war eingebrochen. Keike , flüsterte er. Er sah sie vor sich, spürte ihre Hand, die ihn in die Heide geführt hatte. Wieder ein Stich. Er erhob sich, um die Lampe zu entzünden. Das Licht flammte auf, seine Strahlen leuchteten weit über das Meer. Das Leuchtfeuer blinkte seinen regelmäßigen Takt, gleichmäßig, wie die Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen. Er wünschte, dieses Licht in sein Innerstes zu ziehen. Mit jedem Blinken, das auf das Meer leuchtete, flammten Gedanken, Erinnerungen auf. Mit jedem Blinken zerriss etwas in ihm. Als würde eine innere Kraft die Glaswand, die ihn umschloss, zum Zerspringen bringen.
    Er schnellte hoch, wollte hinuntersteigen. Er stand auf der Wendeltreppe, spähte in die Tiefe hinab. Die Treppenstufen waren verschwunden. Unter ihm klaffte der Abgrund. Die Wände um ihn herum verschoben sich. Sie fingen Feuer, kamen auf ihn zu, legten sich immer enger um ihn. Die glühenden Wände, nur noch eine Handbreit von ihm entfernt. Er vergrub das Gesicht in seine Hände. Seine Haut schmerzte, er brannte. Er verlor das Gleichgewicht, schrie gellend auf und glaubte, in die Tiefe zu fallen.
     
    H
     
    Die Leuchtturmarbeiter fuhren ab. Keike stand mit Stine und vielen anderen an der Mole. Der Mann, den sie liebte, drehte sich zu ihr um. Sein Blick war hart und bitter. Der Hass in seinen Augen bohrte sich in ihr Herz, schlug ihr gegen die Kehle. Sie hätte schreien mögen, aber sie blieb stumm. Kein Laut entrang sich ihr. Ihr Arm hob sich, ihre Hand machte ein Zeichen. Sie sagte: ›Auf Nimmerwiedersehen!‹, sie sagte: ›Ich werde einsamer sein, als je zuvor.‹ Sie rief: ›bleib!‹ Schrie: ›nimm mich doch mit!‹ Winkte Wünsche, die sie nicht aussprechen konnte, durfte. In ihrem Rachen brannten tausend nicht gesprochene Worte. Ihre Hand wollte sich nicht senken. Sie stand wie ein Segel im Wind, hörte nicht auf zu rufen, zu bitten, zu wünschen.
    Er bestieg das Schiff. Das Wasser schlug ans Ufer. Die Flut trug ihre Liebe fort. Die Flut ertränkte sie. Keine Küsse, kein Lachen, keine Tränen, kein Hoffen. Nichts. Die Einsamkeit dröhnte in Keike wie Muschelrauschen. Hoch und tief pfiff sie, in wilden Wellen. ›Du bist verurteilt zu lieben und verlassen zu sein!‹, zischte die Muschel. ›Aber ich bin ein Sturmkind, bin ein Sturmkind.‹
    Das Fährschiff legte ab. Ihre Hand. Das Segel brach ein. Der Orkan, der in Keike wütete, warf sie zu Boden. Sie lag da, wie ein an den Strand gespültes Wrackstück, das man im Ofen verbrannte. Ihre Liebe verging zu Asche. Ohne Hoffnung auf Rettung.
    Das Schiff entfernte sich.
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