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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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Hirngespinsten. Sie hielten vor dem Krankenhaus Sankt Georg, betraten den rechten Flügel des Gebäudes. Almut und Hannes lagen im ersten Stock. In dem dunklen Gang waberte ein Dunst von Medizin, Wundgeruch und Eiter. Andreas Hartmann öffnete die Tür zum Krankenzimmer. Hannes und Almut lagen in ihren Betten. Sie waren blass, fast durchscheinend.
     
    »Vater!« Hannes schluchzte.
    Er beugte sich zu Hannes nieder, umarmte ihn. Nahm Almuts Hand in die seine und küsste sie auf die Stirn.
    »Gott wollte nicht, dass wir sterben, Andreas«, flüsterte sie.
    Andreas Hartmann lächelte. Dennoch schien ihm alles weit entfernt. Er drückte Almuts Hand. »Ich werde zu Hause alles richten.«
    Friedrich lachte. »Ach was, das wird Maria tun. Wozu hast du eine Schwägerin? Sie wird euch in den ersten Tagen zur Hand gehen.«
    »Aber …«
    »Kein aber! Das ist selbstverständlich.«
    »Danke, Friedrich, ihr habt viel für uns getan.«
    »Du siehst müde aus, ganz schwarz um die Augen. Ruh dich erst einmal aus.«
    »Ja, ich bin sehr müde. Ich möchte nur schlafen, schlafen und schlafen.«
    »Jule wird die beiden Tage noch bei uns wohnen. Sie kommt dann zusammen mit Maria zu euch.«
    Andreas Hartmann küsste Almut ein weiteres Mal auf die Stirn.
    Almuts Augen leuchteten. »Ich freue mich so sehr auf zu Hause. Es ist, als ob Gott Hannes und mir ein weiteres Leben geschenkt hat. Er hat seine Hand über uns gehalten. Erzähle mir alles von der Insel und der Einweihungsfeier, Andreas. Ich bin sehr neugierig.«
    »Vater, haben Sie den Leuchtturm genauso gebaut wie unseren Schneeleuchtturm?«
    Er küsste und umarmte Hannes. »Ja, Hannes, genau so.«
     
    Endlich war er allein. Andreas Hartmannn zog die Vorhänge zu und legte sich auf sein Bett. Ausruhen, er musste ausruhen, schlafen. Er ersehnte den Moment, der ihn zur Ruhe kommen ließ. Er schloss die Augen. Sein Hirn fühlte sich dumpf an. Dennoch wirbelten die Gedanken hin und her wie die Blätter im Wind.
    Er konnte mit sich zufrieden sein. Er war zur allergrößten Verantwortung fähig. Er hatte richtig gehandelt. Alles kam wieder ins Lot. Gott war ihm gnädig. Die Liebe ist ein Satan, sprang ihm plötzlich ins Hirn. Ein Satan. Er spürte ein tiefes Verlangen nach Keike. Er rang nach Atem. Die Luft, die er einsog, hatte etwas unerträglich Einengendes an sich. Sie schien ihn zu erdrücken. Es war Almuts Luft. Inselhure, du sollst mich nicht länger gefangen halten. Er stellte sich vor, wie er in den Dünen lag und Keike küsste. Er schluchzte auf. Almut und Hannes sind wieder gesund. Sind wieder gesund. Gesund.
    In den Baumkronen rauschte der Wind. Andreas Hartmann hörte das Rascheln der vertrockneten Blätter. Die Geräusche wurden leiser, entfernten sich schließlich. Er fiel in eine todesähnliche Erstarrung, die in einen schweren Schlaf überging.
    Er fährt auf dem Schiff, fällt aus den Flammen ins Wasser, vom Wasser zurück in die Flammen. Er erhebt sich in die Lüfte. Gerettet. Gerettet. Schwitzt. Geister, Geister kommen. Totengerippe. Tanzen und klappern auf ihn zu, umkreisen ihn mit schaurigem Gelächter, packen ihn. Er kann sie nicht abschütteln. Sie zerren ihn in ein schwarzes Loch, legen ihn auf ein Nagelbrett. Er sieht den Himmel. Keike spaziert dort herum. Er will zu ihr, aber er ist auf das Nagelbrett gespießt. Aber er will zu ihr, nur zu ihr. Keiiiike!, schrie es durch die Finsternis der Nacht. Niemand hört es. Nicht einmal er selbst.
     
    H
    Keike ging auf sein Bett zu. Es war ungewöhnlich still. Kein Rufen, kein Schnarchen, keine Atemgeräusche. Sein Kopf war zur Wand gedreht. Sie beugte sich über ihn. Die Augen waren nach oben verdreht, seine Stirn erkaltet, seine Haut totenblass. Keike schreckte zurück. Sie stand vor ihm, ohne sich zu regen. Diese Stille. Wie lange hatte sie sie ersehnt. Wie lange hatte sie davon geträumt, erlöst zu werden von seinem Irrsinn, seiner Hilfsbedürftigkeit, die ihr Leben bestimmte und nicht mehr von ihr wich. Und jetzt? Der Schwiegervater war tot. Und sie konnte sich über seinen Tod nicht freuen, genauso wenig, wie es ihr gelang, zu trauern. Sie spürte nichts als Leere, fühlte sich wie ein gestrandetes Schiff, dessen Rumpf auseinandergebrochen war, in unzählige Teile zersplittert. Ein nutzloses Wrack mit schwarzen Segeln. Ein Geisterschiff, das ziellos in den Trübungen des Lebens irrte, von den Wellen hin und her gestoßen, ohne Richtung, ohne Hoffnung, ohne Lebenskraft.
    Keike schloss dem Schwiegervater die Augen.
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