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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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stattgegeben.«
     
    »Es ist unlauter, Herr Kollege, Zitate anzubringen, die verkürzt und sinnentstellend sind. Die Ärzte bezeichnen es, als, ich zitiere, höchst wahrscheinlich, dass der Angeklagte vor und während seiner Tat in der Freiheit seines Denkvermögens beschränkt gewesen ist . Ich betone noch einmal: Mit dem in seiner Kindheit erlebten Unglück, das ihm im weiteren Leben die bereits erwähnte psychische Instabilität bescherte, ging bei dem Angeklagten eine übermäßige Arbeitsbelastung einher. Das lässt sich aus seinen Protokollen und den Briefen ans Ministerium nachvollziehen. In dem täglichen Ringen mit den Herausforderungen, die die Inselbaustelle mit sich brachte, und der Nachricht über die lebensbedrohliche Erkrankung von Frau und Kind scheint der Ingenieur von äußeren Umständen getrieben und eingeengt worden zu sein, die bleibende Spuren in seinem Gemüt hinterlassen haben und die sich später in geistiger Verwirrung in seiner Schreckenstat entluden. Er war zur Zeit der Tat eine bewusstlose Kreatur ohne eigenen Willen und ohne Bewusstsein, zumal das Verbrechen sich durch nichts Rationales begründen lässt. Ich denke also, wir können dem Angeklagten einräumen, dass ihn eine Art Empfindungslosigkeit und äußerer Zwang während der Tat geleitet hat. Das erklärt auch seinen Selbstmordversuch.
     
    Darüber hinaus verspürte der Angeklagte unmittelbar nach der Festnahme einen nahezu unbändigen Trieb, sich selbst als Schuldigen anzugeben. Dies sind Empfindungen und Handlungen, die nach fachlichem Urteil als Zeichen für Wahnsinn angeführt werden können. Auch dass der Angeklagte sich nach dem mit ihm geführten Verhör augenscheinlich geistig zurückgezogen hat, unterstützt diese These.
     
    Letztendlich ist es gleichgültig, um welche Art der Geisteskrankheit es sich genau handelt. Es ist aber wichtig, zu betonen, dass der Angeklagte sich zur Zeit der gewalttätigen Handlung ohne seine Schuld in einem unfreien Zustand befunden hat und dafür gibt es im Fall Hartmann mehr Indizien als notwendig.
     
    Das heißt: Niemand kann letztlich ergründen, auch die Ärzte nicht, was genau den Beschuldigten zu der Gräueltat veranlasst hat.«
     
    Der Staatsanwalt unterbrach. »Ich beantrage, den Angeklagten selbst anzuhören.«
     
    »Welchen Sinn soll das haben? Sehen Sie nicht, in welchem Zustand er sich befindet?«
     
    Der Richter klopfte mehrmals mit dem Gerichtshammer. »Dem Antrag der Staatsanwaltschaft ist hiermit stattgegeben.«
     
    Ein Gerichtsdiener ergriff Andreas Hartmanns Ellenbogen. Er ließ sich willenlos auf den Platz vor der Richtertribüne führen.
     
    Der Staatsanwalt baute sich vor ihm auf. »Herr Hartmann, haben Sie nach verübter Tat gewusst oder haben Sie sich denken können, was Sie getan haben?«
     
    Keine Antwort.
     
    »Oder haben Sie während der Tat an einen möglichen Widerstand gedacht?«
     
    Andreas Hartmann hüllte sich in Schweigen. Die Fragen drangen nur als brummendes Geräusch an sein Ohr. Er lächelte. Er blieb in seiner Welt. Niemand konnte ergründen, was er dachte. Es schien, als ob er nicht mehr wusste, was geschehen war, als ob er weder das Glück noch das Verderben spürte, in das ihn sein Aufenthalt auf der Insel gestürzt hatte.
     
    h
     
    Die Insel war wie eine Krabbe geformt. Im Süden lag der Schwanz. Der gekrümmte Rückenpanzer markierte die Seeseite. Auf der Wattseite befanden sich die Krabbenbeine und im Norden der Kopf. Von Norden nach Süden zog sich in der Mitte der Insel eine Straße entlang, die vier kleine Dörfer miteinander verband.
    Es gab insgesamt einhundertfünfzig Häuser auf Taldsum. In sechzig Häusern lebten Witwen. Keike Tedsen war eine junge Inselwitwe. Sie wohnte im Norden der Insel, im Armen-und Witwenviertel des Dorfes, am Rande der Dünen, die sich an der Seeseite entlangzogen. Ihre Kate war wie alle Häuschen des Viertels klein und ärmlich. Das windschiefe Strohdach war zerzaust und mit Moos bedeckt. Die grüne Farbe der Eingangstür war abgeblättert, das ungeschützte Holz hatte sich schwarz verfärbt. Die Kleimauern der Hütte, deren Lehmquader einst in der Sonne getrocknet worden waren, hielten nur, weil Keike sie regelmäßig kalkte. In diesem Haus lebte sie mit ihren zwei Töchtern und dem Schwiegervater.
    Es war Ende September, die Luft klar und frisch. Keike saß draußen auf der Bank neben der Haustür und flocht Strandhalme. Sie reckte ihre Nase in die Höhe. Es roch nach Sturm. Sturm roch ganz
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