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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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lebte sie ohne Mann. Und Harck? Sie hatte sich bemüht, Harck zu lieben. Es blieb ihr keine Wahl. Sie war ein Leben lang an ihn gebunden. Wenn sie ihn zurückwies, nicht versuchte, ihn zu lieben, wäre ihr Leben um vieles härter, glaubte sie damals. Sie hatte sich Mühe gegeben, Zuneigung für ihn zu empfinden, mit ihm zu lachen und zu scherzen. Hatte sich schön gemacht, gehofft, ihn dadurch zu beleben und ihre eigene Liebe zu entfachen. Sie war ihm eine gute Frau. Und er war kein schlechter Mann. Er schlug nicht und drängte sie niemals. Er war mit allem zufrieden. Egal, was sie anstellte. Ob sie sich hübsch kleidete oder nicht, ob sie etwas Gutes kochte oder nicht, ob sie ihn beachtete oder nicht. Je mehr sie dieser einfältigen Zufriedenheit ausgesetzt war, desto kühnere Ideen hatte sie, ihn aus seiner Stumpfheit herauszureißen, damit er etwas spürte und sie etwas für ihn empfinden konnte. Doch weder Harck veränderte sich, noch sie selbst fühlte irgendein Feuer in sich aufkeimen. Ihr Schicksal war besiegelt. Nach und nach unterließ sie ihre Versuche, etwas daran zu ändern. Sie hatte keinen Spaß mehr daran, bunte Bänder in ihr Haar zu flechten oder sich sonstige Albernheiten auszudenken, ihren Mann zu betören. Der Alltag wurde grau, grau und verstaubt wie ihr Hochzeitsstrauß, der eingemottet in der Aussteuerkiste lag. Manchmal glaubte sie, mit einem Greis verheiratet zu sein, obwohl Harck ein junger Mann war. Keike stieß einen Stein beiseite. Sie hatten wie verschrumpelte Möhren in einer Miete gelebt, verkrustet von Erdkrumen und umgeben von Grabgeruch. Ein Glück, dass Harck zur See gefahren war. Schon nach zwei Wintern hatte sie sich nicht vorstellen können, ihn tagtäglich um sich zu haben. Sie tröstete sich, dass es hätte noch schlimmer kommen können und genoss ihre Zeit ohne Harck, so gut es ging.
    Sie betraten den Kirchhof. Die Kinder liefen auf die Kirchentür zu. Keike schritt an den Leichensteinen der Männer entlang. Es waren verwaiste Steine, denn die Männer lagen auf dem Grunde des Meeres, als Skelette, von den Fischen abgenagt, ihre Knochen durchbohrt, gespickt mit Löchern, aus denen Luftblasen aufstiegen.
    Die Grabsteine der Männer waren schneeweiß. Groß und erhaben hoben sie sich vom azurblauen Himmel ab. Sie leuchteten, von der Sonne angestrahlt, blendeten Keike. Sie sah an sich herunter. Keine Sonne der Welt konnte Schwarz zum Leuchten bringen.
    Sie rief die Kinder. Sie gingen in die Kirche hinein. Die Mädchen setzten sich auf die Kinderbänke links vom Altar. Keike nahm tief im Schiff, auf der Seite der Witwen Platz. Sie legte ihr Tuch auf den Schoß, senkte ihr Haupt, wie es sich geziemte. Sie durfte nicht aufblicken. Musste ihre Augen auf ihr Tuch richten. Durfte nicht zu den Männern blicken, die von der Empore auf sie herab sahen. Nicht zu den Jungfrauen und Ehefrauen spähen, die näher am Altar saßen. Näher bei Gott platziert waren. Solange, bis auch sie zu Witwen wurden. Inselwitwen vermehrten sich wie Miesmuscheln. Sie verspannen sich zu Girlanden, verklumpten miteinander zu großen Kolonien. Sie vegetierten dahin, festgewachsen auf steinigem Untergrund. Die Fischer auf See erzählen, dass sie manchmal lang gezogene Bänder an der Inselküste sichten. Es werden wohl Miesmuscheln sein, denken sie. Oder Seetang. Aber dort stehen die Witwen, die toten wie die lebenden, die sich die Hände reichen und einen Kranz um das Ufer ziehen.
    Der Gottesdienst begann. Pastor Jensen sprach ein Gebet. »Ich armer sündiger Mensch bekenne vor Gott, dass alle meine Sünden mir von Herzen leidtun, und ich tröste mich der grundlosen Gnade und Barmherzigkeit Gottes und des teuren Verdienstes Jesu Christi, der zu uns gekommen ist, die Sünder selig zu machen, der für mich gelitten hat, für mich gekreuzigt und gestorben ist. So der Heiland mich gnädig von allen Sünden freispricht, so will ich mit Gottes Hilfe mein Leben bessern.«
    »Ein Schiff, Schiff, Schiff«, wisperte es durch die Reihen.
    Die Treppenstufen knackten. Die ersten Männer schlichen sich von der Empore herunter. Keike tippte Medje, die vor ihr saß, auf die Schulter und warf Stine einen Blick zu. Bis auf die Alten, die nicht mehr laufen konnten, leerten sich die Bänke.
    Pastor Jensen knallte die Bibel auf den Altar. Sein Gesicht lief rot an wie ein gekochter Krebs. »Gott wird euch strafen für eure räuberischen Taten. Er wird keine Gnade walten lassen!«
     

2
    Die Wochen vergingen. Andreas Hartmann hockte
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