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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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Schluck Kaffee und arbeitete weiter.
     
    Jule spielte im Nebenzimmer auf dem Harmonium. Andreas Hartmann raufte sich die Haare. Choräle, Choräle, immer nur Choräle. Und immer hakte es an derselben Stelle. Er sprang auf.
    »Jule, bitte, üb heute Abend weiter.«
    Seine Tochter schaute ihn traurig an. Schon tat es ihm leid, dass er sie unterbrochen hatte.
    »Warte.« Er kehrte in sein Zimmer zurück, öffnete den Bücherschrank, schob einige Bücher beiseite, kramte in einem Papierstapel, der in zweiter Reihe des Schrankes lag. Jule war ihm gefolgt.
    »Was suchen Sie?«
    Er wühlte in einem anderen Stapel, dann in einem dritten. »Ah, hier sind sie.« Andreas Hartmann hielt einen Stoß vergilbter Seiten in der Hand. Er blätterte darin. Er reichte Jule die Hefte.
    »Es sind Noten. Schau sie dir an. Vielleicht möchtest du auch was anderes als Choräle spielen. Zeig sie deiner Lehrerin.«
    »Woher haben Sie sie?«
    Andreas Hartmann schwieg. Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn.
    »Ich erzähl es dir ein andermal.« Er strich seiner Tochter über das Haar.
     
    H
     
    Keike öffnete die Haustür. Horchte. Stille. Sie dankte Gott. Der Schwiegervater schlief. Sie hatte ihn geerbt, den Schwiegervater. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Von der Rah gefallen. Lag in seiner Kammer, im Alkoven, schrie, murmelte, brabbelte Tag und Nacht. Nur wenn er schlief, stand sein Mund still. Ausgenommen, wenn er träumte. Sie legte ihre Jacke ab, hängte sie auf den verrosteten Haken in der Diele. Lautlos zog sie ihre Schuhe aus, schlüpfte in die Pantoffeln und schlich in die Küche. Sie bewegte sich so leise wie möglich, nahm zwei Schafsmistsoden, entfachte das Herdfeuer, setzte Teewasser auf. Sie war sehr hungrig, holte Brot und ein paar getrocknete Schollen aus der Kiste und schnitt sie in Streifen. Das Messer fiel auf den Steinboden. Poltern.
    »Ahhhh. Das Eis, das Eis … Halsen. So halst doch … Pullt. Pullt … Waaasser! An die Pumpen, Jungens … stopft das Leck. Nagelt Planken! Ahhh … das Eis, halsen … pumpen. Das Eis … das Eis … Pullt. Pullt … Waaasser! Waaasser!«
    Keike zog die Schultern hoch. Sie stöhnte auf, riss ein Stück Brot vom Laib, ging zum Schwiegervater und stopfte es ihm in den Mund. Dumpfes Murmeln. Kau-und Schluckgeräusche. Hoffte, dass er wieder einschlief. Heute hatte sie Glück. Sie lief in die Küche zurück, hob das Messer auf. Ihre Lippen zitterten. Sie rammte das Messer in das Brot.
    Das Wasser brodelte im Kessel. Sie goss Tee auf, das kochende Wasser schwappte über den Kannenrand. Sie packte die Kanne, setzte sie hart auf dem Eichentisch ab, erschrak. Horchte. Der Schwiegervater schlief weiter. Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, schlug die Hände vors Gesicht. Seit vier Jahren dieses Geschrei. Seit vier Jahren versorgte sie den verrückten Schwiegervater. Der Schwiegervater hatte überlebt. Harck war ertrunken.
    Der Wind heulte ums Haus. Keike füllte den Teebecher, führte ihn an die Lippen, starrte aus dem Fenster. Der Garten verschwamm vor ihren Augen. Der Totenvogel. In der Nacht, als Harck starb, war er zu ihr gekommen. Mit weiten Schwingen war der schwarze Vogel in die Stube hineingerauscht und hatte das Talglicht zum Erlöschen gebracht. Sie war nicht erstaunt gewesen. Sie wusste, dass Harck nicht wieder kommen würde.
    Alles war wie jedes Jahr gewesen, wenn die Männer verabschiedet wurden. Die Flammen lohten zum Himmel hinauf. Alle standen um das Biikefeuer herum. Rauchwolken stiegen auf. Es roch nach verbranntem Stroh, Reisig und Heidekraut. Die jungen Männer turtelten mit ihren Bräuten. Die Kinder sangen und tanzten im Feuerschein. Sie zwitscherten wie die Schwalben im Frühling. Einige Jungen schürten das Feuer, wedelten mit brennenden Strohwischen umher. Ihre Gesichter glühten von der Hitze. Auch sie spürte die Glut auf den Wangen. Harck legte seinen Arm um ihre Schulter. Er fühlte sich an wie ein Knüppel, mit dem man Seehunde erschlug. Wie Totholz. Eine eisige Kälte kroch ihr den Rücken herauf. Dazu ertönte plötzlich von den Watten das Klagegeschrei der Rotgänse. Sie bellten wie furchtsame Hunde.
    »Harck wird nicht zurückkehren«, kläfften die Vögel, »wird nicht zurückkehren.«
    Es waren nicht die Rotgänse, sondern die Totenvögel, die Stimmen der Ahnen, die in die Nacht hineinschrien.
    Sie hatte Harck nicht gewarnt. Sie hatte damals nicht darüber nachgedacht. Sie hatte es einfach nicht getan. Es hätte auch nichts bewirkt. Er hätte trotzdem seinen
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