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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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absonderlich. Es war ein feiner Geruch, der sich in die salzig-würzige Inselluft mischte, ihr ein anderes Aroma gab. Keike schmeckte ihn sogar auf den Lippen. Sie hatte kein Wort für diesen Duft, diesen Geschmack, aber er bedeutete immer Sturm.
    Sie blickte in den Himmel. Weißliche Besenreiser zogen von Westen auf. Schon flogen die ersten Möwen über die Wiesen. Sie zogen sich ins geschützte Binnenland zurück.
    Die Regenpfeifer schrien. Dem Sturm würde Regen folgen. Die Vögel irrten sich niemals. Keike legte die Halme beiseite, machte sich auf Richtung Meer. Sie durchschritt die Dünen, spürte den Wind im Gesicht. Noch blies er wie gewohnt, fühlte sich kühl und angenehm an, biss und schnitt nicht in die Haut. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten, wie der Wind sie belebte und erfrischte, wie ihre müden Augen sich mit Glanz füllten und ihr blasser Mondsichelmund aufblühte.
    Keikes Muskeln strafften sich. Es wurde immer stürmischer, immer lauter, das Meer. Gutes Geräusch. Zischen, Donnern und Krachen der Wellen, die sich an den Sänden brachen. Ein schwerer Nordwest. Der Wind hielt genau auf den Strand zu. Sie erklomm die letzte Düne, hockte sich in ein Dünental mit freiem Blick auf das Meer. Es stürmte bereits so stark, dass ihre Witwentracht schnell von Sandkörnern bedeckt war. Zunächst sammelten sie sich in den Stofffalten, dann überzogen sie das Kleid vollends.
    Sie beobachtete die Wellen. Sie prallten gegen den Strand. Strom und Wind standen gegeneinander. Die Wellen wurden immer kürzer, schmaler, dafür steiler, wie Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Eine große Woge jagte vorwärts. Die untere größere Masse der Welle konnte nicht schnell genug folgen. Der obere Teil, auf den der Wind peitschte, drohte vornüber zu stürzen. Als ob er dem unteren vorauseilte. Die Welle bedeckte sich mit einem Schaumgürtel, fiel kopfüber und brach sich hart an den Absätzen des Meeresbodens. Ein Teil der Welle löste sich in weißen Schaum auf, hoch aufspritzend, der andere Teil floss den Vorstrand hinauf. Die Woge zog sich wieder in die See zurück, riss eine Menge Sand und Steine vom Strand mit sich in das Meer hinein. Keike zählte die Abstände zwischen den größten Wogen, lauschte dem Krachen und Rauschen des Meeres, dem dumpfen Klackern der Steine in der zischenden Gischt. Heute Nacht, dachte sie, es war Vollmond, Zeit der Springflut.
    Sie blickte in den Himmel. Aus den Besenreisern hatten sich dunkle Wolkengebilde geformt, die wie prall gefüllte Beutel am Himmel hingen. Das Wasser drängte darauf, die schwarze Wolkenhaut zum Bersten zu bringen.
    Sie lief ins Dorf zurück. Zu Stine und Medje hinüber. Stine war eine Witwe, deren Mann noch am Leben war. Oder auch nicht. Seit sieben Jahren wartete sie auf seine Rückkehr. Medje hatte fünf Kinder und drei Männer. Es blieben ihr zwei Kinder. Stine lebte mit ihrer Mutter in der Nachbarkate, Medje schräg gegenüber. Stine und Medje waren ihre besten Freundinnen. Die Not schweißte sie zusammen. Sie lebten vom Armenpfennig, von ihrer Arbeit, von Strandgut. Von einem Fass Rinderschmalz, das sie geborgen hatten, oder von Baumwolltuch, aus dem sie Kleidung nähten. Sie lebten von Schiffsplanken, von Weinfässern, Früchten … irgendetwas fand sich immer am Strand.
    »Kommt zur Möwendüne«, sagte Keike. »Ich gehe vor.«
    In der Dämmerung schlich sie sich aus dem Haus, erreichte ihr Versteck in den Dünen. Sie hatte es dort eingerichtet, wo viele sich nicht hintrauten, im Geisterdünental, wo alle Gespenster vermuteten und sogar gesehen hatten. Aber Keike fürchtete sich mehr vor dem Strandvogt als vor Gespenstern. In ihrem Versteck lag nicht nur die Beute, sondern auch die Männerkleidung. Nicht die von ihren Ehemännern, womöglich erkannte sie jemand. Es waren Kleidungsstücke, die sie von angespülten Leichen abgestreift hatten. Keike schlüpfte in die braune Hose, blaue Jacke und in die Stiefel. Die Zehenkappen hatte sie mit Moos ausgestopft, damit ihre Füße Halt fanden. Keike schob ihr Haar unter die blaue Mütze, zog die Kappe tief in die Stirn hinein, band ein Tuch vor Mund und Nase. Sie stapfte Richtung Meer, erklomm eine Düne nach der anderen, stemmte ihren Körper gegen die Böen, die ihr immer heftiger entgegenschlugen. Sie saugte die nach Algen und Salz riechende Luft ein. Die Ohrfeigen, die der Wind ihr ins Gesicht peitschte, störten sie nicht. In solchen Nächten vergaß sie ihr ganzes Elend. In solchen Nächten wusste sie,
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