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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky
Autoren: Ally Condie
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KAPITEL 1

    J
etzt, wo ich herausgefunden habe, wie ich fliegen kann, welche Richtung soll ich da nehmen hinaus in die Nacht? Meine Flügel sind weder weiß, noch haben sie Federn; sie sind grün, aus grüner Seide gemacht. Seide, die im Wind flattert und sich bläht, wenn ich mich bewege – zuerst fliege ich einen Kreis, dann linienförmig und schließlich in selbsterfundenen Formen. Das Schwarz hinter mir beunruhigt mich nicht, ebenso wenig die Sterne über mir.
    Ich muss lächeln über die Unsinnigkeit meiner Vorstellung. Menschen können nicht fliegen, obwohl es in den Zeiten vor der Gesellschaft Legenden von welchen gab, die es konnten. Ich habe einmal ein Gemälde von ihnen gesehen. Weiße Flügel, blauer Himmel, goldene Kreise über ihren Köpfen, die Augen mit überraschtem Blick nach oben gerichtet – als ob sie nicht glauben könnten, dass der Künstler sie das machen ließ, als ob sie nicht glauben könnten, dass ihre Füße den Boden nicht berührten.
    Diese Geschichten sind nicht wahr, das weiß ich. Aber heute Abend könnte ich es glatt vergessen. Der Airtrain gleitet so ruhig durch die sternenklare Nacht, und mein Herz klopft so schnell, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment hinauf in den Himmel fliegen zu können.
    »Worüber lächelst du?«, fragt mich Xander.
    »Ach, über alles«, antworte ich ihm, und es stimmt. Schon so lange habe ich darauf gewartet: auf mein Paarungsbankett. Heute werde ich zum ersten Mal den Jungen sehen, der zu meinem perfekten Partner bestimmt worden ist. Zum ersten Mal werde ich seinen Namen hören.
    Ich kann es kaum erwarten! Wie schnell der Airtrain auch dahingleitet, mir geht es nicht schnell genug. Er eilt durch die Nacht, sein Fahrgeräusch bildet den Hintergrund für die leisen Gespräche unserer Eltern und mein laut klopfendes Herz. Vielleicht kann Xander es hören, denn er fragt: »Bist du nervös?« Auf dem Platz neben ihm sitzt sein älterer Bruder, der meiner Mutter von seinem Paarungsbankett erzählt. Bald können Xander und ich unsere eigenen Geschichten erzählen.
    »Nein«, sage ich. Aber Xander ist mein bester Freund. Er kennt mich zu gut.
    »Du lügst«, neckt er mich. »Du
bist
nervös.«
    »Du etwa nicht?«
    »Nein, ich nicht. Ich bin bereit.«
    Er sagt das, ohne zu zögern, und ich glaube ihm. Xander ist jemand, der immer genau weiß, was er will.
    »Ist doch nicht schlimm, wenn du ein bisschen nervös bist, Cassia«, beruhigt er mich sanft. »Fast dreiundneunzig Prozent der Jugendlichen zeigen vor ihrem Paarungsbankett gewisse Anzeichen von Nervosität.«
    Ich muss lachen. »Hast du etwa den
ganzen
Stoff über das Bankett auswendig gelernt?«
    »Fast«, gesteht Xander. Er zuckt mit den Schultern, als würde er mich fragen:
Hast du was anderes erwartet?
    Diese Geste bringt mich zum Lachen, und außerdem habe ich auch alles auswendig gelernt. Das fällt einem nicht schwer, wenn man etwas so oft liest, wenn die Entscheidung so wichtig ist.
    »Du gehörst jedenfalls zur Minderheit«, erwidere ich. »Einer von den sieben Prozent, die keine Anzeichen von Nervosität zeigen.«
    »Stimmt«, gibt er zu.
    »Woher weißt du, dass ich nervös bin?«
    »Weil du das da andauernd auf- und zuklappst«, sagt Xander und zeigt auf den goldenen Gegenstand in meiner Hand. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Artefakt besitzt.« Einige Schätze aus der Vergangenheit sind bis heute im Umlauf. Es ist jedem Bürger der Gesellschaft erlaubt, ein Artefakt zu besitzen, aber sie sind sehr selten und schwer zu bekommen. Es sei denn, die eigenen Vorfahren sind so umsichtig gewesen, sie von Generation zu Generation weiterzugeben.
    »Ich habe es auch erst vorhin bekommen«, erzähle ich ihm. »Großvater hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Es hat seiner Mutter gehört.«
    »Wie nennt man das?«, fragt Xander.
    »Puderdose«, sage ich. Ich mag diesen Namen und den Klang, wenn man das Wort ausspricht:
Puderdose.
Das klingt fast genauso geheimnisvoll wie das Artefakt selbst, wenn es zuschnappt.
    »Was bedeuten die Initialen und die Zahlen?«
    »Ich weiß es nicht genau«, sage ich und fahre mit dem Zeigefinger über die Buchstaben ACM und die Zahlen 1940, die in die goldene Oberfläche der Puderdose eingraviert sind. »Aber sieh mal«, sage ich und lasse die Dose aufschnappen, um ihm die Innenseite des Artefakts zu zeigen. Es hat einen kleinen Spiegel aus echtem Glas und eine flache Einbuchtung, in der die ursprüngliche Besitzerin Puder für ihr Gesicht aufbewahrt hat, wie
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