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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen
Autoren: Dagmar Fohl
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Überall hingen Menschen. Weinen, Wimmern, Beten, Flüche. Leb wohl, Andreas. Mutter. Vater. Vater. Fallen lassen, einfach fallen lassen. Eine Welle. Gischt. Wie eine Ohrfeige.
    Andreas Hartmann hörte seinen eigenen Schrei. Er fand sich im Schuppen wieder, einen Pfeiler umklammernd. Er vermochte nicht, sich von ihm zu lösen. Nur zögernd lockerten sich die verkrampften Glieder.
    Schwer atmend ließ er sich auf den Boden gleiten, kam langsam zur Besinnung. Hannes und Almut waren sterbenskrank. Der Gedanke zerschnitt ihm die Brust. Seine bösen Fantasien waren schuld. Warum muss auch Hannes für seine Sünden büßen? Das ist nicht gerecht. Gott im Himmel, ich verspreche dir, ich werde zu meiner Frau, meinen Kindern zurückkehren. Lass sie am Leben.
    Jäh wurde er von blindem Hass übermannt. Keike war schuld an allem. Sie hatte ihn eingefangen und verführt wie eine gefährliche Sirene. Jetzt war ihre Stunde gekommen, jetzt zog sie ihn in die Tiefe. Eine Hure war sie, eine wolllüstige Witwe, die sein Leben zerstört hatte. Verloren schaute er dieser Wahrheit ins Gesicht. Er lehnte seinen erschöpften Kopf an den Pfeiler und weinte bittere Tränen.
     
    H
     
    Psychische Funktionen des Andreas Hartmann
     
    Psychosensorielle Erscheinungen:
    Die Wahrnehmung ist in der Periode der Ruhe normal. Im Augenblick der Erre-
gung scheint er Sinnesstörungen unter
worfen, er sieht Menschen, Tiere oder
Gespenster, die ihn bedrohen.
    Gedankengang:
    Wenn er ruhig ist, sind die Gedanken
gänge regelmäßig; in der Erregung zeigt
er fieberhafte und verworrene Verfol-
gungswahngedanken. Er spricht allein
gegen die vermeintliche Ursache seiner
Leiden, schimpft, schreit und flucht; leb-
hafte Einbildungskraft.
    Gedächtnis:
    Er erinnert sich an seine Familie, aber
wenn man ihn nach seinem Verbrechen
fragt, kann er sich nicht erinnern.
    Stimmung:
    Gewöhnlich trübe, nachdenklich; fragt
man ihn nach seinem Verbrechen, ist er
zerknirscht, stützt den Kopf und weint.
Er denkt an seine Familie und sagt, dass
um seinetwillen Weib und Kinder wer-
den betteln gehen müssen.
    Willen und Instinkt:
    Wenn ihn die gewöhnlichen Anfälle
überkommen, ist er heftig, sonst ruhig.
    Bewusstsein:
    Er weiß, dass er im Irrenhaus ist.
    Sprache:
    Er spricht rasch. Die Stimme hat eine
tiefe und kräftige Färbung.
    Gesichtsausdruck:
    Rundes, volles Gesicht. Die Augen hält
er immer niedergeschlagen; wenn
er erregt wird, bewegt er alle Gesichts-
muskeln und begleitet seine Worte durch
Gesten.
    Schlaf und Traum:
    Er schläft schlecht und fantasiert. Schreie
und Laute ertönen bei häufigem nächt-
lichen Samenerguss.
    gez. Professor Gwinner
     
    H
     
    Der Mond schimmerte rötlich, umwölkt von schwarzen Himmelsschatten. Keike saß in ihrem Dünenversteck. In ihren Ohren schallte das Getöse der Wellen. Jedes Mal, wenn sie sich brachen und auf dem Sand aufschlugen, fuhr sie zusammen. Ihre Gedanken waren wirr. Sie türmten sich wie das Wasser zu Wellenbergen auf, prallten hart gegen ihre Schädeldecke. Sie saß und wartete. Der Mond rot mit schwarzem Wolkenkranz.
    Sie erkannte seine Silhouette, lief Andreas entgegen, wollte sich in seine Arme werfen, an seine Brust drängen. Andreas verhärtete sich. Er brachte sie auf Distanz. Seine Hände umklammerten ihre Oberarme. Sein Griff schmerzte. Der rote Mond verkroch sich hinter dem Schattengewölk.
    Er ohrfeigte sie. Ihre Wange brannte. Eine Träne rollte über ihre glühende Haut, kalt wie ein Eiszapfen. Andreas stieß sie von sich. Sein Mund zuckte.
    »Ich will dich nie mehr wiedersehen, Keike Tedsen. Hure! Eine Hure bist du!«
    Und er verschwand in der Finsternis.
    Keike lachte laut auf, weil sie nicht weinen konnte. Ein eiskalter Wind wehte durch sie hindurch. Sie fühlte seinen Atem, schmeckte Begierde und Tod auf den Lippen. Ihr Kopf zersprang. Ein Knall. Die Feuerhexen feixten, umflatterten sie mit glimmenden Reisigbesen. Immer enger wurden ihre Kreise.
    In ihr erstarb jeder Windhauch. Schwarzer Nebel umhüllte sie. Komm zurück! , hörte sie sich rufen. Sie fiel von den weißen Schaumkronen ihrer Träume in die pechschwarze Tiefe des Meeres. Sie hörte Gelächter. Ihr Gelächter? Es ließ das Meer erbeben. Die Wellenkämme brachen über ihr zusammen. Das Gelächter schleuderte sie durch die schwarzen Fluten. Ein Sturzsee ging über sie hinweg. Wahnwitzig, zügellos. Komm zurück! Sie fühlte, wie sie eines langsamen Todes starb, verlor die Besinnung und war dennoch nicht ohne Bewusstsein. Sie spürte, wie
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