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Ausgewechselt

Ausgewechselt

Titel: Ausgewechselt
Autoren: Paola Zannoner
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Sechs Uhr vierzig
    Wie immer wachte Leo auf, bevor um sechs Uhr vierzig der Wecker klingelte.
    Automatisch flog seine Hand zur Off-Taste, die phosphoreszierenden Leuchtziffern auf dem Display zeigten sechs Uhr neununddreißig. Schon saß er aufrecht im Bett und schob mit einer entschiedenen Geste die Bettdecke beiseite. Es war kalt und dunkel. Leo sprang auf und ging ohne Licht zu machen ins Bad. Dort streifte er sich eilig den Jogginganzug über und zog die Laufschuhe an.
    Im Haus war es ganz still, als wäre es tief in der Nacht. Seine Eltern schliefen noch, erst in vierzig Minuten würde ihr Wecker klingeln. Warum auch immer, sie schafften es einfach nicht, vor dieser Zeit aufzustehen. Der Wecker riss sie aus dem Schlaf, wie ein Angelhaken, der die Fische brutal aus den Tiefen des Meeres an die Oberfläche zieht. Und wie Fische auf dem Trockenen wälzten sie sich dann im Bett herum, zappelten hin und her, bis sie den Lichtschalter fanden, und murmelten Sätze wie: »Es ist höchste Zeit.«, »Los, steh auf.«
    Leo war dann längst auf dem Rückweg von seiner morgendlichen Trainingsrunde. Er lief durch die Straßen, erst an den Gärten, dann am Fluss entlang. Nur wenige Autos waren unterwegs, noch weniger Menschen, die Dämmerung war nicht mehr Nacht, sondern die allererste Ahnung des sich ankündigenden Tages. Der frühe Morgen, der sich in einem unwirklichen, fast magischen Blau präsentierte. Oft löste sich die Dämmerung in dunkle Wolkenbänke auf, der Tag runzelte die Stirn, als hätte er keine Lust, sich zu zeigen. Aber das interessierte Leo nicht, er hatte keine Zeit sich zu fragen, ob es ein schöner Tag werden würde, er ignorierte die beißende Kälte, die ihm an manchem Wintermorgen entgegenschlug und achtete auch nicht auf die Enten, die schnatternd im Schilf am Flussrand erwachten. Leo spürte beim Einatmen die kalte Luft in der Nase, die auf ihrem Weg zur Lunge erwärmt wurde und dann als kleines Wölkchen aus dem Mund wieder austrat. Er sah den Boden unter seinen Füßen und lief, Kilometer um Kilometer, sein tägliches Trainingsprogramm. Hin und wieder schaute er auf die Uhr, um sein Tempo zu kontrollieren und den Schrittrhythmus anzupassen, vor seinem inneren Auge vollzog er mental das Streckenprofil nach, vom Haus zum Fluss, zur Brücke und zurück. Er spürte sein schweißgetränktes T-Shirt auf der Haut, selbst bei dieser Eiseskälte, die gut durchbluteten Ohren, die vom Wind leicht tränenden Augen, den Speichel im Mund. In der Küche empfing ihn gleißendes Neonlicht, der verlockende Duft nach Kaffee, Milch, Marmelade und geröstetem Brot stieg ihm in die Nase. Es war halb acht und höchste Zeit, sich für die Schule fertig zu machen.
    Er saß in der dritten Reihe. Nicht wirklich weit hinten, aber doch weit genug vom Pult entfernt. In den letzten Reihen war man auf dem Präsentierteller, noch mehr als in den ersten. Es war besser, sich im Dickicht der Köpfe der Mitschüler an einem neutralen Ort mitten im Klassenraum zu platzieren. Dort konnte man sich hinter den Vorderleuten verstecken und profitierte von der Rückendeckung durch die Verbannten ganz hinten. Hier im Niemandsland konnte man es sich bequem machen, sich ausklinken und seinen Gedanken nachhängen – vagen Fantasien, ganz weit weg, aber stark genug, die Aufmerksamkeit nach innen zu ziehen, in ein perfektes Nichts.
    Ein Stoß in die Seite brachte ihn in die Realität zurück, es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Der Zeigefinger der Lehrerin war unmissverständlich auf ihn gerichtet. Ihr Kinn angriffslustig vorgereckt, hatte sie ihn im Visier, mitten durch den Wald der Köpfe der anderen hindurch.
    »Leo, wovon sprechen wir gerade?«
    »Von … « Er warf seinem Nachbarn, der ihm den rettenden Ellbogencheck versetzt hatte, einen flehenden Blick zu. Die Hand fächerförmig über den Mund gelegt, flüsterte der ihm etwas zu, was Leo aber nicht richtig verstand. Er wiederholte das Wort: »Para… dia.«
    »Wie bitte?« Die Lehrerin sah ihn spöttisch an. Die Lippen seines Nachbarn formten die Silben »Pa-ra-dig-ma«, woraufhin der Blick der Lehrerin sich verfinsterte. Sie wandte sich zu ihm: »Danke für deinen Beitrag, Daniele.«
    Daniele sackte in sich zusammen, als hätte ihn eine Kugel getroffen.
    »Paradigma, Leo, Paradigma. Im Bezug auf was?«
    »Ich habe nicht zugehört, es tut mir leid.«
    Jetzt ließ die Lehrerin mit einem zufriedenen Lächeln das Kinn wieder sinken und versuchte, die Klasse in die Jagd auf den
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