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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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Situation werden zu können.
    So auch, wenn uns bestimmte Krankheiten anfallen, die heute zu den häufigsten Erkrankungen zählen, von der Virusgrippe bis zum Krebs: Es gilt, nicht auch noch eine Schuld daran zu übernehmen, sondern alle verfügbaren Kräfte dafür einzusetzen, so mit der Krankheit umzugehen, dass wir unsere Lebenssituation weiter gestalten können. Es geht um wachsende Gelassenheit angesichts der Endlichkeit des Lebens und der sichmehrenden Verluste, die uns treffen können; gewiss aber nicht um ein vorschnelles Aufgeben, sondern darum, dem schöpferisch entgegenzutreten, um »ein Gestaltenwollen des Möglichen angesichts der kürzer werdenden Lebenszeit« 104 . Viele empfinden sich sogar gleichmütiger im Vergleich zu früheren Lebensphasen, können auch gelegentliche Vorwürfe anderer, wenn sie sie als unberechtigt empfinden, besser ertragen und sich davon abgrenzen. Andere wiederum, oft schon erschüttert von allzu vielem, das sie in einer bestimmten Zeitspanne loslassen mussten, erleben sich auch verwundbarer als früher. Auch dies sollten wir zugeben und uns zugestehen.
    Wie also gelassener werden? Es ist keine Frage, dass bei fortschreitendem Alter etwas verloren gehen kann, was in unserer Gesellschaft und auch von uns Einzelnen hoch geschätzt wird: die Autonomie im Sinne dessen, dass ich über das ganze in mir angelegte Potential an Fähigkeiten ständig frei verfügen könnte und somit von jeder fremden Hilfestellung und Hilfeleistung unabhängig sein und bleiben könnte. Bei näherem Hinschauen erweist sich diese Form von Autonomie und immerwährender möglicher Aktivität als eine stark von männlichen Werten geprägte Vorstellung. Kann im höheren Alter nicht jede Frau, jeder Mann auch eher »rezeptiv und passiv« werden? Und verbindet er sich damit nicht dem, was traditionell dem »Weiblichen« zugeschrieben wird? Dementsprechend gibt Eva Jaeggi zu bedenken: »Die noch immer herrschende Verachtung der Weiblichkeit in ihren stillen, regressiven Aspekten wird umstandslos auf das Alter übertragen.« 105 Und sie kommt zu der kühnen These: »Alter ist weiblich.« 106
    Von der feministischen Position her ließe sich also vielleicht eine neue Vorstellung vom Altern gewinnen, die davon ausginge, dass wir die quasi weiblichen Qualitäten des Alters wieder mehr würdigten. Als Frauen sollten wir weniger in den beschriebenen Kampf und Krampf der Alten um das sich entziehende Leben investieren, als vielmehr in das Loslassen, die Gelassenheit im Sinn einer Hingabefähigkeit an »das Leben selbst«, an das »Größere Ganze«, das uns in Gestalt der MutterNatur auch im Welken und Sterben umfasst und birgt wie alle Lebewesen. Im Alter brauchen wir eine Liebesfähigkeit, die über uns selber hinausführt und hinausreicht, eine Liebesfähigkeit zum »Großen Ganzen«, das für mich eine religiöse Kategorie ist. Sie zeigt sich zum Beispiel in der Generativität, der Zuwendung zur nachwachsenden Generation: Da brauchen wir die Fähigkeit, uns auch einmal zurückzustellen und zurückzunehmen, die Fähigkeit zum liebevollen Verzicht, damit das »Größere Leben« sich entfalten könne, gewiss auch durch die Entfaltung derer, die nach uns kommen.
    Es sei eine Einsicht und Konsequenz ökologischen Denkens, auch in die eigene Sterblichkeit einwilligen zu können, so Dorothee Sölle in einem eindrucksvollen Dialog während des Leipziger Kirchentags im Jahr 1997, in dem sie mit einer Inderin diskutierte, die ihrerseits für eine umfassende Mütterlichkeit im Umgang mit dem Leben plädierte, auch dies als alte wissende Frau. Ihr ging es, aus der religiösen Tradition Indiens heraus, um Mütterlichkeit im Umgang mit dem Leben, das dort selbst als »Große Mutter«, die uns trägt und umfasst, verstanden wird. Diese Überzeugungen schlössen auch eine Mütterlichkeit im Umgang mit sich selbst als alternde Menschen ein, seien wir nun Frau oder Mann. Es darf dabei eine gütige Nachsicht und Nachgiebigkeit mit uns selber aufkommen, Empathie und Erbarmen mit unseren nachlassenden Kräften, was ein gelegentliches Sich-Fallenlassen, ein Sich-Lassenkönnen möglich macht.
    Wenn wir in diesem Sinne mütterlich mit uns selber als alten Menschen umgehen, dann lassen wir uns nicht in die Resignation, sondern in ein Vertrauen hinein fallen, wie es eben der Großen Mutter Leben, von der wir alle herkommen, entspricht. Die Zärtlichkeit, die wir vielleicht schon als Kind einer alten Großmutter gegenüber empfanden, könnten
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