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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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lang solche Schmerzen erduldet hat: mit wenig Klagen und ohne Groll. Im Bewusstsein, dass so etwas zum Lebengehört, auf jeden Fall dazugehören kann und für Tausende dazugehört, wollte auch sie es ertragen. Sie wollte für sich keine verschonte Sonderexistenz haben, sondern all das durchleben, was »das Leben selbst« für den Menschen vorgesehen hat und ihm zumutet. Sie bejaht ein »vollständiges Leben« wie das der Inanna, der sumerischen Liebesgöttin, die es auf der Mittagshöhe des Lebens, vom Gipfel ihres Ruhmes weg, hinzog und hinunterzog zu ihrer ganz andersartigen Schwester Ereschkigal, die, so der Mythos, im Gegenreich der Finsternis, der Schmerzen und des Todes lebte.
    Inanna, die strahlende Göttin des Lebens und der Liebe, wollte nicht länger in der Einseitigkeit eines nur der lichten Seite zugewandten Lebens leben, sie wollte auch die andere, die dunkle Seite kennenlernen, erfahren und erleiden, weil es ihr um das Ganze ging. 107 So ließ sie sich an jedem der sieben Tore zur Unterwelt etwas wegnehmen von ihrer Macht. Zuerst ihre »Krone der wilden Steppe«, dann ihren Stab, ihren Geleit- und Maßstab, mit dem sie bisher die Dinge hatte bewerten und beurteilen können. Nun ist sie keine Königin mehr, nicht mehr souverän und nicht mehr autonom. Sie hat die Entmachtung, den Verlust ihrer Autonomie zu erleiden. Sie lernt zu ertragen, hinzunehmen, anzunehmen. Immer wenn sie die bekümmerte Frage stellt: »Was soll das?«, wird ihr geantwortet: »Heilige Bräuche müssen vollzogen werden.« Sie hat es hinzunehmen, dass es die Schwächung gibt, die Einbußen an Vitalität, an Glanz und Autonomie, wie sie das Alter auch mit sich bringt, sie hat es anzunehmen.
    Dies sind die »heiligen Bräuche« auf dem Weg zur Ganzheit des Lebens, zur Ganzheit des inneren und des äußeren Menschen. Ich kenne Menschen, Frauen und Männer, die sich einem naturbedingten körperlichen Leiden mit Geduld, mit würdiger Gelassenheit und damit einer wachsenden inneren Freiheit ausgesetzt haben, um Milderung der Schmerzen gewiss bemüht, aber ohne einen verzweifelten Kampf dagegen zu führen. Dem Menschen ist von der Natur, dem Leben selbst, eine begrenzte Lebenszeit zugedacht, zusammen mit allen anderenLebewesen auch. Hier gibt es eine große, solidarische Verbundenheit alles Lebendigen.
    Am Ende steht das Hinnehmen und Ertragen des Todes, seine Annahme – da er uns von der Schöpfung her zugedacht ist, sodass er auch zu ertragen sein muss: »Sterben müssen wir ja alle, da bringt’s dich auch nicht um«, so meine Großmutter, als sie dem Tod nahe war. Als sie das sagen konnte, war sie in das Geheimnis der Gelassenheit eingeweiht.
    Solche Annahme einer schweren und schmerzhaften körperlichen Beeinträchtigung kann innere Freiheit bedeuten, auch wenn das Leiden selber nicht aufhebbar ist. Zwei Teilnehmerinnen der Malfortbildung 108 , die ich mit Christa Henzler zusammen durchführe, lehrten mich da das Staunen: Die eine benutzte für die Darstellung der schmerzenden Körperstellen, vor allem einer Hüftluxation, an der sie seit Kindheit litt, das gleiche Azurblau wie es als spirituelle Farbe im ganzen oberen Bildteil war, verstand also das mitgegebene Hüftleiden als Teil der spirituellen Erfahrung ihres Lebens; die andere sagte vor ihrem strahlenden Bild einer Himmelsleiter, mit der sie den Traum des biblischen Jakob darstellte, sie wisse sich in der Gnade, unabhängig davon, ob die kaputten Bandscheiben geheilt werden könnten oder nicht. Mit der Himmelsleiter, der keine Sprosse fehlte, hattesieunbewusstzugleichihreWirbelsäulegemalt.DieLeiter verband auf ihrem Bild eine quasi himmlische Lichtzone mit einer gleich großen irdischen, die von gleicher Lichtintensität war. Beiden Frauen war es gegeben, ihren langwierigen körperlichen Leiden eine spirituelle Dimension abzugewinnen.
    Wenn wir den Lebensbogen bedenken, der nach einem schöpferischen Gestalten und Ausschöpfen der uns gegebenen Zeit zum Loslassen auffordert, Stück für Stück, Schritt für Schritt, so scheint es also auf das Erlernen solchen Lassens, solchen Lassen-Könnens hinauszulaufen. »Gelassenheit« scheint die Haltung zu sein, die dem Prozess des Alterns am ehesten gerecht werden könnte und so der Würde des Alters entspräche. Ist doch zuletzt das große Loslassen an den Prozess des Sterbens letztlich ein Akt der Hingabe.

Nachwort: Sich aussamen
    Wenn ich ein Bild für einen alten Menschen suche – für uns Menschen im Alter –, so sehe ich neben
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