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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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anderen Bildern eine Pusteblume vor mir: eine Löwenzahnblüte, weiß geworden, zart, zur runden Kugel gestaltet, kurzum: reif geworden, sich auszusamen …
    Ihre vitale Leuchtkraft hat sich in zarte Helligkeit verwandelt, ihr kraftvolles Wurzeln im Grund des Blütenstands in absprungbereite Leichtigkeit, ihr ausgebreiteter Kranz von Blütenblättern zu einer Kugelform gerundet, abgerundet, und in sich selbst und um sich selbst zentriert.
    Nun muss nur ein Windhauch kommen oder ein heftiges Angeblasenwerden: Schon löst sich das in seiner reifen Form so fragil gewordene Gebilde, entgrenzt sich, löst sich auf in lauter kleine federleichte Fallschirme, die ihm entschweben – natürlich nicht, um sich in der Luft zu verlieren, sondern um vielleicht an weit entfernten Stellen zu landen und sich wieder einzuwurzeln. Denn ein jeder dieser kleinen Fallschirme trägt ein Samenkorn mit sich, das ihn veranlasst, wieder zu landen und sich wieder zu erden. Der Löwenzahn, nach seiner Blüte zur Pusteblume geworden, samt sich aus.
    Die Löwenzahnblüte, zur Pusteblume geworden, scheint mir in manchem dem alten Menschen vergleichbar. Die Zeit des Blühens ist vorüber, die Blüte hat sich transformiert, ist eine einzige Samenquelle geworden – ihre Auflösung bedeutet zugleich ihre Aussamung in unabsehbare Räume hinein.
    Ihre Aussamung bedeutet Generativität: ohne es zu wissen und zu wollen, ohne es beeinflussen zu können, nämlich ohne Warum, wird der Mensch fruchtbar über seine Daseinsform und Lebenszeit hinaus.
    Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es beabsichtigen oder nicht, die Samen unseres Lebens fliegen aus. Sichtbar ist mögliche Aussamung natürlich in der physiologischen Folge von Kindern und Enkeln, sichtbar auch in der Generationenfolge, in der geistigen Nachfolge von Freundinnen und Freunden, Schülerinnen und Schülern, die vieles von der prägenden Wesensart eines Menschen, seiner Gesinnung und Einstellung weitertragen. Sichtbar bleiben auch die schöpferischen Arbeiten, in Wort, Schrift und Bild, in Musik und Tanz. So begleiten mich bis heute die Batik-Kissen, die Aschenbecher und Vasen aus gebranntem Ton, die eine Freundin, die auf diesen Gebieten des Alltags kreativ war, mir hinterlassen hat. So bleiben die Kochrezepte, die Großmutter mir überlieferte, so bleiben die Bräuche des Weihnachts- und Osteressens, die Gewohnheiten des Feierns. So bleibt aber auch die Struktur einer Institution, die wir prägen konnten, so bleiben die Formen unserer Kommunikation. Viel weniger erkennbar, aber tausendfach und unübersehbar sind die Spuren, die lebendigen Aussamungen, die unser Verhalten im Alltag, unsere Gesten und Bewegungen, unsere Art, einander zuzulächeln, zuzuhören und zuzusprechen, in anderen Menschen bewirkt haben mögen.
    Wir brauchen uns nur selbst zu fragen, wie sehr andere Menschen, darunter auch längst Verstorbene, etwas in uns angerührt, angestoßen und bewirkt haben, oft nur durch ihr So-Sein, ihre Art und Weise zu leben, durch ihren Humor, ihre Aufmerksamkeit, ihre Art zu ermutigen, aber auch durch die Art ihrer Kritik.
    Vor allem die späteren Jahre eines Lebens geben uns die Chance und Gelegenheit, solches Aussamen, das unbewusst geschieht, bewusster zu erleben und zu bedenken; vielleicht sogar ein wenig mitzulenken, solange wir noch gestalten können. Nie vergessen werde ich meine Großmutter, die später in unserer Familie mitlebte, und den von ihr achtsam hergerichteten Teller mit Äpfeln und Birnen, den sie vor meinem Zimmer auf die Treppe zu stellen pflegte, wenn sie wusste, dassich spät und vielleicht ein wenig abgekämpft nach Hause kommen würde. Es war eine kleine Geste, die mich tief berührte.
    Das Geben ist uns Alten gemäßer und seliger als das Nehmen. Wer gegeben hat, spontan, weil es ihm oder ihr ein Bedürfnis ist, wird auch Hilfe annehmen können, wenn das Nachlassen der Kräfte es schließlich verlangt; wird das Vertrauen haben, dass auch ihm oder ihr spontan und freudig gegeben wird.
    Rose Ausländer, nach einem an Umbrüchen, Zumutungen und Entbehrungen reichen Leben zuletzt im jüdischen Altersheim in Düsseldorf wohnend, schrieb dort ihre lebensgesättigten Gedichte, die in so manchen Menschen Wurzeln schlugen; sie samte sich aus, in dieser guten Weise zu uns zu sprechen, wie eine Löwenzahnblume. Sie berührte viele Menschen vor allem mit dem, wie sie selbst ihr Alter lebte, mit dem, was sie war, und mit dem, wie sie es aussprach und zusprach, nämlich so:
    Noch
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