Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
Vom Netzwerk:
Stadtautobahn durch Saarbrücken ist wegen Überschwemmung der Saar gesperrt. Die Umleitung kostet ihn eine halbe Stunde; der Stau vergrößert seine Nervosität. Als er den Wagen vor dem Friedhof abstellt, spürt er den Druck auf der Brust, den er immer spürt, wenn er hierher kommt. Er schiebt das schmiedeeiserne Tor langsam auf und geht mit gesenktem Kopf die Gräberreihen entlang. Unter seinen Schritten knirscht der Kies. Die Kindergräber liegen, beschirmt von drei winterkahlen Linden, versteckt hinter der Mauer mit den Urnengräbern.
    Schon vom weiten sieht er, daß die Mutter von Christine, dem Mädchen, das in dem Grab neben Florian liegt, einen Rosenstrauch auf Christines Grab pflanzt. Das ärgert ihn, denn heute will er an Florians Grab alleine sein. Es ist ihm peinlich, sich Tränen aus den Augen zu wischen, wenn jemand daneben steht, noch dazu Christines Mutter. Sie ist Mitte Vierzig und sieht noch gut aus. Der Schmerz über den Tod ihrer Tochter hat ihr die Augen gerötet und die Falten darum vertieft, aber genau das findet Weigandt anziehend. Bei Christines Mutter hat er das Gefühl, daß sie seinen Schmerz über Florians Tod verstehen und mit ihm teilen würde, während Ingrid, seine Frau, weder seinen Schmerz begreift noch seine Trauer teilt. Im Sommer erhascht er durch den Ärmelausschnitt manchmal einen Blick auf den Ansatz der großen, weißen Brüste von Christines Mutter. Dann überkommt ihn ein schmerzliches Verlangen, an einem heißen Tag mit ihr in ein dunkles, kühles Zimmer zu treten, ihr die Bluse zu öffnen und seine Lippen auf diesen blau geäderten Busen zu drücken. Auch heute, als sie unter seinen hilfsbereit aufgespannten Schirm tritt und ernst, aber freundlich zu ihm hinaufblickt, kommt ihm wieder dieser Gedanke, den er jedoch sofort bereut. Das macht ihn verlegen, und deshalb grüßt er besonders freundlich. Sie fängt ein langes Gespräch an, dem er sich aus schlechtem Gewissen nicht entziehen will.
    Als sie weg ist, blickt er mit dem brennenden Schmerz, der ihn seit Florians Tod nie mehr verlassen hat, auf den Grabstein. Florian Weigandt – 1983-1992 steht da eingemeißelt in den polierten Granit. Darunter sind die Verse von Rückert eingegraben, die Ingrid nicht mag, weil sie ihr kitschig erscheinen, aber hier hat er sich durchgesetzt:
    Du bist ein Schatten am Tage ,
    Und in der Nacht ein Licht;
    Du lebst in meiner Klage,
    Und stirbst im Herzen nicht.
    In einem Würfel aus Acrylglas am Fuß des Grabsteins liegen ein Plüschtiger, ein Dinosaurier aus Plastik und eine Spieluhr. Die Spieluhr sieht aus wie ein Mond, der eine Zipfelmütze trägt. Vor vielen Jahren hat der Mond allabendlich Guten Abend, gut Nacht gespielt, aber seine einst bunten Farben sind schon lange verblichen, und der Stoff ist spröde und rissig geworden.
    Obwohl er hunderte Male am Grab seines Kindes gestanden hat, ist er jedes Mal, wenn er hierher kommt, genauso traurig wie an dem Tag, als Florians kleiner Sarg in die Grube hinunter gelassen wurde. Florian wäre jetzt neunzehn Jahre alt und hätte, wenn alles gut gegangen wäre, in diesem Jahr sein Abitur gemacht und dann vielleicht ein Studium begonnen. Aber all das, sagt Weigandt sich mit aufeinandergebissenen Zähnen, wird nie geschehen. In seiner Vorstellung ist sein Sohn auch nie neunzehn geworden, sondern immer der schmächtige, gehbehinderte Drittklässler seiner Erinnerung geblieben. Er ist ein intelligenter Junge gewesen, ernsthafter und stiller als gleichaltrige Kinder, was Ärzte darauf zurückführten, daß er Jahre seines Lebens in Krankenhäusern verbracht hatte. Er ist immer etwas hilfsbedürftig gewesen und wäre es sein Leben lang geblieben, aber für all das hatte Weigandt vorgesorgt: Florian hätte als Erwachsener über ein Millionenvermögen verfügt und wenigstens finanziell keine Sorgen mehr gehabt. Er steht lange mit leerem Blick vor dem Grab. Immer wieder zieht er eine Hand aus dem Trenchcoat und dreht den Schirm gegen den Wind, um ihn am Davonfliegen zu hindern. Fröstelnd erinnert er sich an den Tag, an dem er Florian zum letzten Mal gesehen hat.
    Es war ein Morgen im Oktober 1992; ein Tag, an dem er nach Düsseldorf fliegt. Er wird die ganze Woche weg sein, deshalb hat er den Flug so gelegt, daß er noch mit Florian frühstücken und ihn dann in die Schule bringen kann. Florian ist stolz, wenn die anderen ihn aus dem großen BMW aussteigen sehen. Seine Mutter versucht hartnäckig, aber erfolglos das Kind davon zu überzeugen, daß es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher