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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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so ganz anders als sein Bruder Nick …
    Mit Nick Beckenham war es Leslie nie richtig ernst gewesen. Sie hatten sich vielleicht ein dutzendmal verabredet. Beide teilten die Vorliebe für italienisches Essen und die Big Bands aus den Vierzigern. Nick war so gut wie verlobt – mit Margot, einer ehemaligen Klassenkameradin Leslies, die in Chicago gerade an ihrem Magisterabschluß arbeitete. Nick war ein paarmal mit Leslie ausgegangen, während Margot in Chicago büffelte. Sie hatte ihn zwei-, dreimal auf die Wange geküßt, nichts weiter, und sie hatten zusammen gefeiert, als Nick vom Streifenpolizisten zum Detective befördert worden war. Und daß Nick sie wegen der vermißten Schulmädchen verhört hatte, stimmte nicht – obwohl zwei von ihnen die Schule besucht hatten, an der Leslie als Psychologin tätig war. Vielleicht war sie sogar die letzte Person gewesen, die Juanita García lebend gesehen hatte. Nur einen Tag, bevor Juanitas Eltern das Mädchen als vermißt gemeldet hatten, war sie in Leslies Büro gewesen; seit sie die Räume des schulpsychologischen Dienstes verlassen hatte, hatte niemand mehr Juanita zu Gesicht bekommen.
    »Außer dem Mörder«, hatte Leslie damals zu Nick gesagt. »Bedeutet dein Besuch, daß ich unter Verdacht stehe?«
    »Red keinen Unsinn, Les.« Der junge Polizist hatte gelacht, doch seine Miene wirkte besorgt. »Da draußen läuft ein Irrer frei herum. Es wurden schon drei Mädchen ermordet, alle im gleichen Alter, und alle hatten langes schwarzes Haar …«
    In diesem Moment war es passiert. Leslie hatte die Szene so deutlich gesehen, als hätte sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtet … das heißt, seltsamerweise wie durch einen Vorhang aus fließendem Wasser. Und sie hatte ihre eigene Stimme gehört, hoch und schrill vor Entsetzen …
    »Sie liegt in einem Graben … einem Abwasserkanal«, hatte Leslie sich sagen hören. »Ihr Haar ist zu Zöpfchen geflochten. Der Kerl steht darauf, den Mädchen Zöpfe zu flechten, nachdem er sie …«
    »Du lieber Gott, Leslie! Woher weißt du das? Diese Information haben wir zurückgehalten, damit wir die Verrückten aussieben können, die bei uns anrufen und falsche Geständnisse ablegen, um sich wichtig zu tun. Wir nennen diesen Hurensohn den Rattenschwanz-Mörder, weil er seinen Opfern Zöpfchen flicht, nachdem er sie ermordet hat. Großer Gott, woher weißt du …«
    »Ich habe Juanita gesehen«, flüsterte Leslie. »In einem Graben … ein Entwässerungskanal in der Nähe einer Windmühle. Sie hat ihre schwarze Lederjacke an …«
    Nick hatte Leslie in den schwarzweißen Streifenwagen gepackt und war mit heulender Sirene losgefahren. Leslie hatte nie einen Blick auf Juanitas Leiche geworfen. In diesem grauenhaften, blitzartigen Unterwasserbild hatte sie das Mädchen deutlich genug gesehen … ein Mädchen, das sie kannte, das noch am Tag zuvor in ihrem Büro gesessen hatte – Juanita García, sechzehn Jahre, mit hüftlangem schwarzem Haar. Langem Haar, das nun zu vielen kleinen Zöpfen geflochten war.
    Doch Leslie hatte nicht nur das Mädchen gesehen, sondern auch die Hände des Mörders – und sein Gesicht. Joaquin Mendoza mit seiner halbmondförmigen Narbe, der genähten Hasenscharte, über der ein krummer Schnurrbart wuchs, und seinen buschigen Augenbrauen. Später hatte Leslie den Mörder noch einmal gesehen, als die Polizei ihn verhaftete und geflochtene Haarsträhnen und die blutbefleckten Slips der Mädchen in seinem Zimmer fand. Ab und zu erschien Leslie dieses Gesicht immer noch in ihren Alpträumen.
    Nicks Partner hatte damals mit offenem Mund dagesessen und Leslie fassungslos zugehört, als sie mit stockender Stimme Mendoza beschrieb. Natürlich hatte der Mann nicht geglaubt, daß Leslie das Gesicht des Killers vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Wahrscheinlich war er noch heute der Überzeugung, Leslie sei irgendwie in den Mordfall verwickelt, und sei es nur als Augenzeugin.
    Nick war sehr nett gewesen, hilfreich und verständnisvoll. Er hatte zu ihr gestanden, hatte ihr versichert, sie sei nicht verrückt. Aber der Enquirer hatte wieder und wieder angerufen. Die Zeitungsleute wollten Leslie sogar nach Chicago einfliegen, damit sie dort parapsychologische Nachforschungen über einen anderen Sexualverbrecher anstellte. Spinner und Verrückte hatten Leslie mit Anrufen bombardiert. Und vor allem war da noch Juanita Garcías Mutter gewesen, die bei der Beerdigung des Mädchens wüste Beschimpfungen ausstieß.
    »Wieso hatten Sie
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