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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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du es, die mit schiefen Tönen nicht leben kann. Ich habe am frühen Vormittag einen Termin. Außerdem überlege ich ernsthaft, mir einen anderen Makler zu suchen. Die alte Agentur hat offenbar nichts mehr zu bieten.«
    Emily schlenderte zum Klavier, setzte sich auf die Bank und spielte ein paar Tonleitern, wobei sie den Kopf schieflegte und eine schmerzliche Miene aufsetzte. »Les … hast du unter deinen Patienten auch richtige Verrückte? Ich weiß, ich weiß. ›Ich darf dir keinerlei Informationen über meine Patienten geben‹«, parodierte sie ihre Schwester. »Es ist nur … als das Telefon klingelte, habe ich einen Schreck bekommen. Vor ein paar Stunden hatte ich einen komischen Anruf, weißt du. Die … die Person am anderen Ende hat eigentlich gar nichts gesagt. Nur irgendwie …« Sie zögerte. »Irgendwie gemurmelt. Und geatmet.«
    »Atmen«, meinte Leslie, »tun wir alle, vierundzwanzig Stunden am Tag.«
    »Das war kein normales Atmen. Wer immer am Telefon war, hat mit Absicht so getan, als würde er … nein, das trifft es auch nicht. Ich meine … ich hatte nicht den Eindruck, daß er einer von den Kerlen war, die am Telefon keuchen. Keiner von diesen obszönen Anrufern. Ich bin nicht mal sicher, daß es ein Mann war. Ich hatte so ein …« Wieder hielt Emily inne, suchte nach den richtigen Worten. »Es klang unheimlich. Irgendwie … bedrohlich.«
    »Hört sich an, als könnte das dieselbe Person gewesen sein wie eben«, meinte Leslie und dachte noch einmal über die merkwürdige Stimme nach. So verwirrt war keiner ihrer Patienten. Sie war Therapeutin, keine Ärztin oder Psychiaterin; ihre Patienten litten unter den üblichen neurotischen Störungen – gesellschaftliche Zwänge, Streß am Arbeitsplatz, Eheprobleme oder das Unvermögen, den Erwartungen der Schule oder der Eltern gerecht zu werden.
    Und gegen wirklich schwere geistige Störungen konnte selbst ein Psychiater wenig ausrichten. Eine von Leslies Patientinnen, Susan Hamilton, war alleinerziehende Mutter eines behinderten Kindes. Christina war sieben Jahre alt, doch sie konnte oder wollte nicht sprechen und mußte immer noch Windeln tragen. Die Medizin hielt ein halbes Dutzend Etiketten für ein solches Kind bereit: hirngeschädigt, autistisch, lernbehindert, emotional vernachlässigt, zurückgeblieben, Bloße Schlagwörter, die keine Hilfe versprachen. Durch Sprachtherapie und spezielle Lernprogramme konnte man Chrissy höchstens wie einen Hund dressieren, damit sie in dieser behindertenfeindlichen Gesellschaft weniger Anstoß erregte. Leslie konnte nichts für Christina und nur wenig für ihre Mutter tun – außer Susan zu erlauben, ihrer schrecklichen Wut über das blinde, gleichgültige Schicksal freien Lauf zu lassen, das ihr diese furchtbare Last auferlegt und ihre Ehe und vielleicht ihr ganzes Leben zerstört hatte.
    »Nein, von meinen Patienten ist keiner ernstlich gestört«, versicherte sie Emily. Plötzlich mußte sie an Eileen Grantson denken, und mit einem Mal war sie sich nicht mehr so sicher. »Hat der Anrufer nach mir gefragt?«
    »Nein, er hat keinen Namen genannt, nicht einmal richtig gesprochen. Es war schrecklich, Les. Die Stimme klang gar nicht … menschlich, so verrückt es sich anhört. Eher wie eine verlorene Seele im Fegefeuer.«
    Genau diesen Gedanken hatte ich auch, Emily, ging es Leslie durch den Kopf. Aber heute abend hatte sie kein Verlangen, über verlorene Seelen nachzugrübeln. Sie fühlte sich ohnehin noch von Juanita Garcías starrem, totem Gesicht verfolgt und von dem Bild des Aschenbechers, der durch ihr Büro flog, und vom Anblick der blutenden Stirn Eileens. Jetzt wünschte sie sich nur noch einen netten, ganz normalen Abend. Ihr fiel der Ausspruch eines ihrer Professoren ein: ›Der Mensch ist kein vernünftiges, sondern ein vernünftelndes Wesen. ‹
    Emily machte ein finsteres Gesicht und beugte sich tief über die Tasten.
    »Ich hätte Geigerin werden sollen, dann könnte ich mein Instrument selbst stimmen. Vielleicht sollte ich das Klavierstimmen lernen. Es wird sehr gut bezahlt, weil’s nicht jeder kann. Man braucht das absolute Gehör, so wie ich es habe. Und das Konservatorium kostet verdammt viel Geld. Du hättest es doch auch leichter, wenn ich ein bißchen dazuverdienen würde …«
    »Wir kommen schon über die Runden, Emily. Ich weiß, wovon ich rede, glaub mir. Als ich das College besuchte, hatte ich fünf Dollar die Woche plus Fahrgeld für den Bus. Was meinst du, wie oft ich die
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