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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Ihre übersinnliche Eingebung nicht schon, als meine Tochter in Ihrem Büro war, he? Warum haben Sie Juanita nicht gewarnt, ehe sie diesem verrücken Killer in die Hände fiel? Haben Sie mein Mädchen sterben lassen, damit Ihr Name in die Zeitung kommt?«
    Leslie hatte der Frau nur wahrheitsgemäß erwidern können, daß sie ein Jahr ihres Lebens dafür hergeschenkt hätte, die Gefahr zu ahnen und vorauszusehen, daß Juanita einem wahnsinnigen Killer in die Arme lief, nachdem sie ihr Büro verlassen hatte. Sie hätte Juanita gewarnt, hätte sie angefleht, auf sich aufzupassen. Doch als Juanita – eine notorische Schulschwänzerin, Kleinkriminelle und so abgefüllt mit Hasch und Verachtung, daß sie kaum aus den Augen blicken konnte – mürrisch vor Leslies Schreibtisch stand, war die schicksalhafte Eingebung ausgeblieben. Außerdem bezweifelte Leslie stark, daß Juanita eine solche Warnung ernst genommen hätte. Das Mädchen hatte nie auf einen Rat seiner Lehrer gehört.
    Erst jetzt wurde Leslie sich bewußt, daß sie in den Spiegel starrte. Doch sie sah nicht sich selbst darin, sondern Juanita Garcías langes dunkles Haar und das unter Wasser treibende Gesicht des ermordeten Mädchens …
    Das Telefon klingelte, und Leslie eilte zum Apparat in der Diele. Über das Schrillen hinweg vernahm sie die Klänge eines Präludiums von Bach; Emily war nach Hause gekommen und hatte zu üben begonnen.
    »Hallo?«
    Die Stimme am anderen Ende klang belegt, gepreßt und eigenartig. Gestörten Persönlichkeiten fiel es häufig schwer, deutlich zu sprechen; sie fürchteten sich zu sehr vor ihren eigenen Gedanken.
    »Entschuldigung«, sagte Leslie, »ich kann Sie nicht verstehen.«
    »Ist … ist Alison da?«
    »Tut mir leid, ich glaube, Sie haben sich verwählt.«
    Unverständliches, unwirsches Gemurmel; dann ein Klicken in der Leitung und das Freizeichen. Leslie legte auf. Ein Spinner? Oder hatte sich bloß jemand verwählt? Leslie hatte früher bei der Telefonseelsorge gearbeitet und mit mehr als einem Selbstmordgefährdeten gesprochen; die Kollegen hatten ihr damals erklärt, so etwas wie Verwählen gebe es nicht. Der Anrufer wähle die Nummer aus einem ganz bestimmten Grund, auch wenn er diesen vor sich selbst verbergen müsse. Leslie wußte nicht recht, ob sie das glauben sollte – ihr klang das zu simpel, zu freudianisch. Du liebe Zeit, es kam doch vor, daß einem beim Wählen der Finger abrutschte oder daß man im Telefonbuch eine Zahl falsch las. Natürlich konnte man sich verwählen …
    Leslie hörte jemanden auf der Treppe und erkannte am Klang der Schritte ihre Schwester Emily, die den Kopf ins Zimmer steckte, als Leslie gerade ihre Perlenohrringe befestigte. Die hochgewachsene, schlaksige Siebzehnjährige trug das dunkle, rötlich schimmernde Haar zu einem strengen Knoten gebunden: Bei Emily äußerte sich der pubertäre Widerspruchsgeist eher durch Perfektionismus als durch Schlampigkeit. Bevor Leslies kleine Schwester sich für das Klavier entschied, hatte sie vier Jahre lang Ballettunterricht genommen, dem sie ihren zarten Schwanenhals, die königliche Haltung des Kopfes und die kerzengerade Positur verdankte, die Emily weit größer erscheinen ließ als ihre ein Meter einundsechzig.
    »Wer war das eben ‘am Telefon, Les? Mommy?«
    Leslie schüttelte den Kopf. »Jemand hatte sich verwählt.«
    »Hast du das Haus bekommen?« fragte Emily eifrig.
    Bedauernd zuckte Leslie die Achseln. »Es war nicht groß genug – nicht genug Platz für Praxis und Klavier.«
    Emily seufzte. »Schade. Hörte sich gut an, als du mir davon erzählt hast. Gehst du aus?«
    »Joel und ich gehen essen. Im Gefrierschrank sind Hamburger.«
    Als Emily eine Grimasse zog, fiel Leslie wieder ein, daß ihre Schwester soeben eine ihrer vegetarischen Phasen durchlebte. »Ich habe auf dem Heimweg einen Salat gegessen«, meinte sie. »Ich möchte bloß noch einen Becher Joghurt. War der Klavierstimmer da?«
    »Ich hatte keine Zeit, ihn anzurufen. Ist denn etwas nicht in Ordnung?« Leslie stieg die Treppe hinunter, griff nach ihrem Kamelhaarmantel und warf einen Blick in das weitläufige Altbau-Wohnzimmer. Emily, die der Schwester nach unten gefolgt war, ließ die Finger über die Tasten des Klaviers gleiten und verzog das Gesicht. »Hörst du das denn nicht?« Rasch verbarg sie ihren abschätzigen Blick. »Ruf ihn morgen an, Les, ganz früh, ja?« bat sie ausgesucht freundlich.
    »Ruf ihn selbst an«, erwiderte Leslie fröhlich. »Schließlich bist
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