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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Schachtel Kleenex für den Fall, daß das Mädchen in Tränen ausbrach. Diese Schachtel hob sich jetzt abrupt von der Unterlage und segelte über den Schreibtisch auf Leslie zu. Verblüfft duckte sie sich. Sie hatte nicht bemerkt, daß das Mädchen den Karton auch nur angerührt hatte. »Eileen …«, begann sie.
    »Jetzt werden Sie wohl noch behaupten, ich wär’ das gewesen!« kreischte Eileen und schoß hoch wie von der Tarantel gestochen. Der Aschenbecher auf Leslies Schreibtisch machte plötzlich einen Satz in die Höhe, schwebte einen Moment in der Luft und schoß dann auf Eileen zu. Mit der spitzen Ecke zuerst traf der Ascher das Mädchen dicht über einer Braue. Sofort strömte Blut aus der Wunde. Schreiend, die Hände vors Gesicht geschlagen, sank Eileen auf den Stuhl zurück.
    »Jetzt tun Sie es auch«, schluchzte das Mädchen. »Sie sind genau wie alle anderen! Scheiße, wie das blutet! Warum hassen mich bloß alle?« Eileen kauerte auf dem Stuhl und starrte entsetzt auf ihre blutverschmierten Finger.
    In die Stille hinein rief der Kuckuck fünfmal.
    »Nein, ich gebe dir keine Schuld, Eileen. Und ich habe auch keine Ahnung, wie das passiert ist«, beruhigte Leslie das Mädchen zum wiederholten Mal. »Trink das jetzt, und mach dir keine Gedanken. Wir reden beim nächstenmal darüber. Und wenn wieder was passiert, ruf mich an, ja?« Sie nahm Eileen den Pappbecher aus der Hand und sah draußen einen Wagen vorfahren. »Da kommt dein Vater, um dich abzuholen.«
    Eileen schniefte immer noch.
    »Er wird Ihnen nicht glauben. Er haßt mich. Er wird sowieso alles mir in die Schuhe schieben.«
    »Dann erzähl ihm nichts davon«, riet Leslie ihr kurz angebunden und drückte Eileen einige Papiertaschentücher in die Hand. Das Mädchen blinzelte und fuhr ängstlich mit den Fingern über das Heftpflaster auf ihrer Stirn.
    »Und was soll ich sagen, wenn Dad mich fragt, was passiert ist?«
    »Wenn du willst, sag ihm die Wahrheit. Es ist deine Entscheidung.«
    »Er wird mir nicht glauben.«
    »Dann sag ihm, du wärst gestolpert und hättest dir den Kopf an der Schreibtischkante aufgeschlagen.« Leslie fragte sich, ob das nicht sogar der Wahrheit entsprach. Waren sie beide von einer gespenstischen Halluzination getäuscht worden? Aber genauso hatte Leslie beim letztenmal an ihrer Intuition gezweifelt – genauer gesagt, an dem Augenblick übersinnlicher Wahrnehmung, als sie Juanita Garcías Leiche im Bewässerungsgraben gesehen hatte.
    Noch einmal klopfte sie Eileen begütigend auf die Schulter und führte sie zur Ausgangstür. Vor der Treppe parkte der Wagen ihres Vaters. Ungeschickt streifte Eileen ihre Daunenjacke über, nahm ihren Rucksack und rannte mit tapsigen Schritten die Stufen hinunter. Die Autotür knallte hinter ihr zu.
    Erleichtert trat Leslie ins Haus zurück und schloß die Tür.
    Daß Eileen unbemerkt nach der Schachtel mit den Papiertüchern gegriffen und sie über den Schreibtisch geschleudert hatte, hätte Leslie vielleicht noch glauben können. Aber den Aschenbecher hatten weder sie noch das Mädchen auch nur angerührt.
    Leslie wußte, daß sie den Ascher nicht geworfen hatte. Und Eileen hätte ihn gar nicht erreichen können, ohne aufzustehen. Außerdem war er in Richtung des Mädchens geflogen und hatte sie mit solcher Wucht getroffen, daß Blut geflossen war.
    Leslie ging ins Büro zurück, nahm den Ascher und schaute ihn sich an. An der spitzen Ecke war eine Blutspur zu erkennen. Das Glas fühlte sich warm an und schien in den Fingern zu prickeln. Leslie mußte sich zwingen, den Ascher behutsam abzustellen, und sich gegen den Impuls wehren, ihn fallen zu lassen und entsetzt die Hand fortzureißen.
    Es fängt wieder an … die seltsamen Erscheinungen … und ich dachte, ich hätte das alles in Sacramento hinter mir gelassen …
    Leslie fiel ein Artikel über parapsychologische Forschungen an der Duke-Universität ein, den sie gelesen hatte. Ein namhafter Psychologe wurde mit den Worten zitiert: »Auf jedem anderen Gebiet hätte ein Zehntel der vorliegenden Beweise mich überzeugt. Doch bei dieser Materie würde selbst das Zehnfache an Beweisen mich nicht überzeugen, denn ich weiß, daß so etwas schlichtweg unmöglich ist.«
    Unmöglich, fragte sich Leslie. Sie wußte nicht, was sie von ihren Beobachtungen halten sollte. Nach kurzem Nachdenken setzte sie sich an ihren Schreibtisch und zwang sich, die Sitzung zu protokollieren, wobei sie Bemerkungen hinzufügte über das, was sie gesehen hatte. Das,
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