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Die Hüter der Schatten

Die Hüter der Schatten

Titel: Die Hüter der Schatten
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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nicht daran. Grantson hatte das Mädchen selbst zu ihr gebracht; was er an Klagen über das Verhalten seiner Tochter vorbrachte, schien einen durchaus realen Hintergrund zu haben. Und was Eileen über die Scheidung ihrer Eltern erzählte, hörte sich völlig normal an.
    »Warum lebst du bei deinem Dad und nicht bei deiner Mutter, Eileen?« fragte Leslie behutsam.
    »Ich mag den Typen nicht, den Mom geheiratet hat«, stieß das Mädchen zornig hervor. »Außerdem, was soll ich in Texas? Meine Freunde wohnen hier. Okay, ich geb’ zu, es sind nicht viele, weil in der Schule diese blöden Lügengeschichten über mich erzählt werden.«
    In Leslies Innerem schrillten plötzlich Alarmglocken. »Was für Lügengeschichten, Eileen? Was sagen deine Mitschüler über dich?«
    »Alle erzählen dieselben Märchen wie Dad«, erwiderte Eileen, ohne den Blick zu heben. »Aber die lügen alle. Sie sagen, ich hätte irgendwelche Sachen kaputtgemacht. Aber das war ich nicht. Ich hätte es getan, wenn ich könnte. Und ich kann die anderen nämlich auch nicht ausstehen. Ich will nicht mit dieser lahmarschigen Meute rumhängen. Wie hätte ich denn die Geigensaiten kaputtmachen sollen, wo ich doch auf der anderen Seite vom Klassenzimmer war? Ich wollte die erste Geige spielen, aber dieser saublöde Lehrer hat mir die zweite zugeteilt. Was hat der schon für ‘ne Ahnung? Der Typ hat Ohren aus Blech und spielt ewig mindestens einen Viertelton zu tief! Ich will sowieso aus dem Schulorchester raus und die blöden Geigenstunden hinschmeißen. Aber mein Vater sagt, ich wär’ noch zu jung, um zu wissen, was ich mit dem Leben anfangen soll. Und bis ich selbst entscheiden könnte, ob ich Geige spielen will, wäre ich zu alt, um es richtig zu lernen. Also zwingt er mich die ganze Zeit zum Üben. Ich glaub’ er hat Angst, daß ich mit jedem rummache und schwanger werde, wenn ich nicht ständig auf der Scheißgeige übe und zur Sonntagsschule gehe.«
    Zum erstenmal hörte Eileen sich wie alle anderen Teenager an, mit denen Leslie zu tun gehabt hatte. »Du meinst, dein Vater befürchtet, du könntest Sex mit einem Jungen haben?«
    Das Mädchen zuckte die Achseln und starrte wieder zu Boden. Leslie erkannte, daß sie die Frage zu früh gestellt hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf die Wanduhr, eine mit verschnörkelten Schnitzereien geschmückte österreichische Kuckucksuhr aus Holz. Ein ziemlich kitschiges Ding, aber den Jugendlichen fiel es leichter, wenn nicht Leslie, sondern das unpersönliche Schlagen der Uhr die Sitzung beendete. In ungefähr sechs Minuten würde der Kuckuck zum Vorschein kommen. Wenn man bedachte, daß es ihre erste Sitzung mit Eileen gewesen war, hatte Leslie allerhand erreicht. Sie hatte die Möglichkeit eines Kindesmißbrauchs so gut wie ausgeschlossen – und das war immerhin etwas. Wahrscheinlich hatte sie es mit einem unkomplizierten Fall zu tun. Ein unbeholfener Teenager in der schwierigsten Phase des Erwachsenwerdens, der wütend auf Gott und die Welt war und sich eine Mitschuld daran gab, daß die Familie zerbrochen war.
    Ein junges Mädchen ohne vernünftigen Mutterersatz. Ein Vater, der in seiner Arbeit aufging und nur wenig Zeit für seine vereinsamte Tochter aufbrachte. Und Eileen selbst stellte das Faustpfand in diesem Machtkampf zwischen ihren Eltern dar. Vielleicht konnte Leslie dem Mädchen klarmachen, daß es nicht die Zielscheibe dieser Feindseligkeit war … daß die Probleme ihres Vaters seine eigenen waren und nicht ihre Schuld … daß die Flucht ihrer Mutter deren Sache war und nicht darin gründete, daß Eileen ihr eine schlechte Tochter gewesen wäre.
    »Erzähl mir von den Tellern, die du zerbrochen hast, wie dein Dad behauptet«, bat Leslie mit ruhiger Stimme. Sie wußte, diese Schlüsselfrage würde in Eileen eine Spannung aufbauen, die das Mädchen dazu bewegen würde, bis zur nächsten Sitzung über ihr Problem nachzudenken.
    »Hab’ keine Ahnung. Sie lagen plötzlich auf dem Boden. Einen hat er direkt nach mir geworfen und dann behauptet, ich hätt’s selbst getan!« rief Eileen. Zum erstenmal hatte sie die Stimme erhoben. »Ich war’s aber nicht! Und es war auch kein Unfall! Er hat den Scheißteller gezielt nach mir geworfen!«
    »Warum sollte er so etwas tun, Eileen?«
    »Er haßt mich!« schrie Eileen. »Er will, daß ich Ärger kriege, damit er mich zu Mutter nach Texas abschieben kann! Er haßt mich! Er haßt mich! Er haßt mich!«
    Auf dem Tisch hinter Eileens Stuhl stand eine
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