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Die Himmelsmalerin

Die Himmelsmalerin

Titel: Die Himmelsmalerin
Autoren: Pia Rosenberger
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wenn auch zunächst verkehrt herum. Er konnte sicher nicht lesen, erkannte aber möglicherweise das Siegel des Franziskanerklosters.
    »In Ordnung«, nickte er dann und drückte Lionel das Schreiben wieder in die Hand. »Habt Ihr schon ein Quartier?« Noch mehr obdachloses Gesindel konnte die Stadt sicher nicht gebrauchen.
    »Ich werde beim Glasmaler Luginsland wohnen und arbeiten«, sagte Lionel und machte, dass er weiterkam, bevor der Mann auf die Idee kam, noch mehr Fragen zu stellen.
    Lionel führte Bonne und Étoile hinaus ins Licht. Nach der Stille und Dunkelheit des Torturms wirkte die angestaute Hitze noch erdrückender. Die neuen Häuser der Stadt strahlten grell wie ein Kalksteinbruch in der Mittagssonne. Der Handelsweg teilte das Häusermeer; darauf tummelten sich Fuhrwerke, Reisende und Wanderer, armes Bauern- und Diebsgesindel neben herrschaftlich gekleideten Patriziern. Eine zweite Brücke überquerte mitten in der Stadt brackig riechende Neckarkanäle. Lionel ließ sich treiben, wurde Teil der lärmenden Vielfalt, der bunten Farben, der Gerüche, des Lärms. Als er aufsaß, drehte sich die Welt.
    Nun gut, er hatte es fast geschafft, beim Glasmaler Luginsland erwartete ihn sicher ein kühler Wein und ein bisschen Ruhe. Der Auftrag hatte Zeit bis morgen. Er ließ Étoile im Schritt gehen, führte Bonne am Zügel, während die pochenden Kopfschmerzen hinter den Augendeckeln immer stärker wurden. Durch das Gewimmel kam er eher langsam vorwärts. Der Glasmaler musste in der Nähe der Kirche wohnen, die er nicht verfehlen konnte. Ihre Türme ragten über den Dächern auf. An einem wurde noch gearbeitet. Oben schwärmten Steinmetze wie ein ausfliegendes Bienenvolk um einen Bienenstock herum. Menschen, Farben, Muster, alles verschwamm zu einem Strom aus farbigem Licht. Er hatte nicht gewusst, dass man auf einem Pferd sitzend eindösen konnte.
    Doch plötzlich wurde er aus seiner Lethargie gerissen. Wie ein Schreckgespenst stand er da, der Dominikaner, stumm und unbeweglich an einer Hausecke, wo es betäubend nach Fisch roch, und saugte mit seinem schwarzweißen Gewand die Farben aus der Welt. Der Anblick war für Lionel wie ein Schlag ins Gesicht. Als der Mönch seine Kapuze zurückstreifte, lagen seine Augen tief im Schädel, zwei Höhlen, in denen Asche glomm. Lionel wusste, dass die Sonne einem manchmal, wenn man zu lange draußen gewesen war, Trugbilder vorgaukelte, einem das Gehirn zerkochte und Wahnvorstellungen verursachte, an denen mancher schon zerbrochen war. Er rieb sich die Augen, doch als er sie wieder öffnete, stand der andere noch immer da und starrte ihn an. Zum Umkehren war es zu spät. Lionel zog Étoile am Zügel und wappnete sich.
    »Seid gegrüßt, Lionel Jourdain«, sagte der Mönch spöttisch. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Euch auf Erden noch einmal begegnen würde. Ich hoffe, Ihr wandelt heute sicher auf den Pfaden der Kirche.«
    »Auch ich grüße Euch, Pater Ulrich«, sagte Lionel mit fester Stimme. »Fahrende wandeln auf vielen Pfaden. Aber eigentlich hatte ich gehofft, Euch erst in der Hölle wiederzutreffen.«
    Damit ließ er den Mönch einfach stehen. Frère Mort, er hatte Frère Mort gesehen!
    Am liebsten wäre er umgekehrt, hätte sich aus dem Staub gemacht wie die Bewaffneten auf der Brücke, hätte dem Hengst die Sporen gegeben und wäre raus aus der Stadt und ihrer drangvollen Enge geritten, die ihn jetzt schon bedrückte. In seinen Gedanken war Joèlle noch immer gegenwärtig. Fast konnte er sie unter den Türmen der Kirche stehen sehen, einen Wäschekorb im Arm, wie damals in Carcassone. Ihr Rock bauschte sich im Mistral, und ihre schwarzen Haare flatterten. Als er vorüberritt, drehte das Traumgespinst sich um, lachte und winkte ihm zu.

3
    Lena wanderte steil bergauf, zunächst in Richtung Westen, der Sonne entgegen. Rundum in den Weinbergen arbeiteten Menschen. Der Pfleger des Klosters Salem, der seine Tagelöhner beaufsichtigte, schob seinen Sonnenhut zurück und hob grüßend die Hand, als sie vorüberging. »Wohin des Weges, Jungfer Magdalena?«, fragte er.
    »Ich mache einen Besuch!«, rief sie und winkte zurück.
    Vielleicht war ja irgendwann ein großer Auftrag von dem mächtigen Kloster am Bodensee zu erwarten, das so viel Grundbesitz im Schwäbischen besaß. Ein ebenso wunderbarer Auftrag, wie ihn der Thron Salomonis von den Zisterziensern aus Bebenhausen darstellte, den sie allein ausführen würde, weil ihr Vater weder Farben noch Umrisslinien mehr sehen
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