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Die Himmelsmalerin

Die Himmelsmalerin

Titel: Die Himmelsmalerin
Autoren: Pia Rosenberger
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sackte ihr bis in die Kniekehlen. Sie löste sich aus der Umarmung, rannte zur Haustür, öffnete sie und schaute nach draußen. Der Hof war leer, und darüber wölbte sich, schwanger von Schnee, ein grauer undurchsichtiger Himmel.

    Lionel schaute vom jenseitigen Neckarufer zurück auf die Stadt, in der sich so viel für ihn verändert hatte. Trutzig schob sich die Brücke über den graugrünen, träge dahinströmenden Fluss. Sogar im frühen Winter drängten sich Fuhrwerke und Handelskarawanen vor dem Brückentor. Von der Stadt war die Mauer zu sehen, dahinter ein Gewirr aus Dächern, fast verborgen im weißen Rauch der Ofenfeuer, und über allem thronten die Zwillingstürme der Stadtkirche. Selbst die Weinberge erschienen ihm im matten Licht grau und ohne Farbe. Grisaille, dachte er. Wenn das Glas weiß blieb und nur mit Schwarzlot in verschiedenen Abstimmungen bemalt wurde, erzielte man genau die Stimmung dieses frühen Wintertags. So wollten die Zisterzienser die Glasmalerei in ihren schlichten Kirchen. Die Franziskaner sollten sich auch an das Gebot der Mäßigkeit halten, taten es aber immer seltener. Was würde ihn in Königsfelden erwarten? Kein Grisaille jedenfalls. Eine ganze Kirche mit leuchtend bunten Glasfenstern, in denen Stifterbildnisse von der Herrlichkeit der habsburgischen Fürsten erzählten. Sorgsam richtete er seine Gedanken auf die Zukunft, eine sichere, seit acht Jahren erprobte Methode, um zu vermeiden, dass Bedauern und Schuldgefühle sein Leben bestimmten. Lena hatte sich nicht von ihm verabschiedet und er sich nicht von ihr. Damit konnte er alle Träume von einem gemeinsamen Leben begraben. Und dabei hätte er wissen müssen, dass sie die Pläne, die er mit ihrem Vater und Konrad geschmiedet hatte, nicht bedingungslos akzeptieren würde, nicht nach der Sache mit Anstetter. Wieder hatten sie über ihren Kopf hinweg entschieden, weil Männer Frauen eben als Unterpfand betrachteten und sich nichts dabei dachten.
    Étoile tänzelte unruhig, und Bonne schnaubte leise. Die Pferde hatten viel zu lange im Stall gestanden und freuten sich auf die Reise. Langsam wurde seine rechte Hand kalt, mit der er den Zügel hielt. Er ließ den Blick schweifen und sah am Ufer einen Graureiher sitzen, dessen schwarzer Schnabel sich spitz in die kalte Luft bohrte. Sein Gefieder war grau und aufgeplustert gegen die Kälte, doch am Hals hatte er eine gelbe Stelle, wie ein Sonnenstrahl an einem trüben Tag. Plötzlich erhob sich der große Vogel in die Luft, streckte seine langen Beine und breitete die elegant geformten Flügel aus – ein schmaler Körper, der den Aufwind der Luft nutzte – und segelte davon, stadtwärts, ein Pfeil mit schwarzer Spitze.
    Lionel wendete zögernd die Pferde. Er verharrte noch einen Moment, bis der Reiher völlig aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann gab er Étoile die Sporen und hielt auf die Brücke zu, auf der sich der Verkehr stadteinwärts genauso staute wie in der anderen Richtung. Die Zeit für ein Wort des Abschieds musste sein, egal wie Lena sich entschied.
    Es begann zu schneien, vereinzelte weiße Flocken, die langsam wie Baumblätter zu Boden segelten. Darüber löste sich das Grau und öffnete sich für eine milchig weiße Sonnenscheibe. Im zunehmenden Licht blitzte am anderen Ufer etwas Blaues auf. Jemand, der einen langen, blauen Mantel trug, stand dort, sprang auf und ab und winkte. Er blinzelte und schaute genauer hin. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sie einen Rucksack dabei. Er winkte zurück und stellte sich in die Schlange vor dem Tor. Sein Herz wurde leicht. Wenn sie auf ihrer großen Reise waren, würde er ihr als Erstes einen warmen, pelzgefütterten Wollmantel kaufen.

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Über Pia Rosenberger
    Pia Rosenberger wurde 1963 in der Nähe von Osnabrück geboren. Nach dem Abitur studierte sie in Stuttgart Kunstgeschichte, Literatur und Pädagogik. Heute lebt sie mit Mann und zwei Kindern in Esslingen und arbeitet als freie Journalistin, Stadtführerin und Museumspädagogin. »Die Himmelsmalerin« ist ihr erster Roman.

    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
     
     
    Originalausgabe
     
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
     
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    ISBN 978-3-10-401413-5



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