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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens
Autoren: Michael Kumpfmüller
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gesagt, das mochte sie, aber jetzt nennt er sie bloß noch Dora, denn Dora kommt von Geschenk, er müsste es sich nur nehmen, sie wartet darauf.

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    A M MEISTEN ÜBERRASCHT DEN D OKTOR, dass er schläft. Er ist dabei, sich in ein neues Leben zu stürzen, er müsste sich fürchten, er müsste zweifeln, aber er schläft, die Gespenster lassen sich nicht blicken, obwohl er sie immerzu erwartet, in seinem Kopf die alten Schlachten. Aber diesmal scheint es keine Schlacht zu geben, es gibt das Wunder, und es gibt den Plan, der aus diesem Wunder folgt. Er denkt nicht viel an sie, er atmet sie ein und wieder aus, an den Nachmittagen in der Küche, wenn sie in Gedanken durch Berlin spazieren, beim Essen, wenn ein Duft von ihr herüberweht. Abends, im Bett, beschäftigt er sich ab und zu mit einem Satz, mit einem Stück Haut, dem Saum ihres Rockes, wie sie beim Essen die Gabel hielt, gestern, als er sie nach ihrem Vater gefragt hat, der ein strenggläubiger Jude ist und mit dem sie seit Langem im Zerwürfnis lebt. In seinen Träumen taucht sie vorläufig nicht auf. Aber er verliert sie nicht im Schlaf, weiß am Morgen sofort, dass sie irgendwo ist, als wäre da zwischen ihm und ihr ein Seil, an dem sie sich langsam zueinander hin ziehen. Er hat sie bisher kaum berührt, aber nicht nur am Rande weiß er, der Tag wird kommen, an dem er sie berühren wird, doch er hasst sich nicht dafür, fast als wäre es sein Recht und der Schrecken ein überwundener Aberglaube.
    Seit einer Woche treffen sie sich jeden Tag. Seine Schwestern und die Kinder sieht er vorwiegend zumFrühstück, erst gestern hat er sich anhören müssen, dass er zu wenig Zeit für sie hat. Elli hat das gesagt, aber als wäre sie in Wahrheit sehr einverstanden mit ihm und dieser Dora, und dass er da also eine Beschäftigung hat in diesem verschlafenen Müritz und seine Nächte nicht mit seinen komischen Geschichten verbringt. Über seine Arbeit hat der Doktor nie gern gesprochen. Würde sie danach fragen, würde er antworten, dass er nicht mal Briefe schreibt, auch nicht an Max, dem er immerhin mitteilen könnte, dass er überlegt, nach Berlin zu gehen. Aber dazu ist die Möglichkeit zu zart, mehr ein Hauch als ein Gedanke, etwas, das sich in Worte kaum fassen lässt und durch einen einzigen falschen Satz, so fürchtet er, vertrieben würde.
    Max würde gefallen, dass sie aus dem Osten ist. Seit die Städte voll mit Flüchtlingen sind, reden alle vom Osten, auch Max, der sich Rettung für alle Juden von dort erhofft, aber es gibt keine Rettung, auch nicht aus dem Osten.
    Wer aus dem Osten ist, hat von heute auf morgen sein Leben hinter sich gelassen, deshalb ist Dora sehr viel freier als er, entrissener und darum zugleich gebundener, jemand, der weiß, wo seine Wurzeln sind, gerade weil er sie gekappt hat. Sie kommt dem Doktor nicht dunkel vor, wie Max wahrscheinlich behaupten würde, als wäre sie einem Roman von Dostojewski entsprungen. Auch Emmy ist alles andere als dunkel, denn die Geliebte von Max ist eine waschechte Berlinerin, blond und blauäugig, und das einzige Geheimnis, das sie hat, ist ihre Verbindung zu Max, der durch sie erst erfahren haben will, was körperliche Erfüllung ist. Gegenüber dem Doktor hat er sich bereits mehrfach in diese Richtung geäußert, zum Glück ohne ins Detail zu gehen, aber Max ist sein Freund, er ist verheiratet, die bezaubernde Emmy hat ihn, wie esscheint, ein wenig aus der Bahn geworfen. Zum Glück leben sie nicht in derselben Stadt, was natürlich ebenso ein Pech ist, jedenfalls für Emmy, die sich darüber beklagt, dass sie sich viel zu selten sehen. Auch beim Doktor hat sie sich beklagt, er hat sie auf der Hinfahrt in ihrem Zimmer am Zoologischen Garten besucht und sie darum gebeten, sich in die Lage von Max zu versetzen.
    Dora lacht über solche Geschichten. Sie sitzen am Strand und erzählen sich Geschichten vom Warten. Auch der Doktor hat sein halbes Leben gewartet, zumindest ist das im Nachhinein sein Gefühl, man wartet und glaubt nicht daran, dass noch jemand kommt, und auf einmal ist genau das geschehen.
    Am nächsten Vormittag regnet es in Strömen. Der Doktor steht auf dem Balkon und beobachtet in der Kolonie ein großes Hin und Her, denn heute reist die Hälfte der Kinder zurück nach Berlin. Es ist Sonntag, auch Tile muss zurück, gegen elf steht sie im Regenmantel in der Empfangshalle und kämpft mit den Tränen. Der Doktor hat ihr zum Abschied ein Geschenk gekauft, eine rubinrote Schale, die sie vor
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