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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens
Autoren: Michael Kumpfmüller
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fragt sie, in welcher Gegend sie wohnt, wie es dort ist, die seltsamsten Dinge will er wissen, die Preise für Brot und Milch und die Heizung, die Stimmung auf der Straße, fünf Jahre nach dem Ende des Krieges. Ruppig und hektisch ist Berlin und voller Flüchtlinge aus dem Osten, erzählt sie, das Viertel, in dem sie lebt, ist voll davon, überall singende, zerlumpte Familien, die aus dem schrecklichen Osten stammen.
    Der Strandspaziergang ist inzwischen zu Ende, sie sitzen auf einer schmalen Bank, im vorderen Drittel der zweiten Landungsbrücke unter dem trüben Licht einer Laterne. Sie sind noch immer bei Berlin, der Doktor erzählt von seinem Freund Max, der eine Geliebte namens Emmy dort hat. Jetzt muss sie leider ein paar Sätze über Hans sagen, wenigstens erwähnen muss sie ihn, zumal derDoktor von einer Verlobten spricht, aber das ist tausend Jahre her. Alles ist tausend Jahre her. Der Doktor beginnt zu träumen, wie das wäre, wenn er nach Berlin käme, worauf sie erwidert, das wäre doch sehr schön, denn dann könnte sie ihm alles zeigen, die Theater, die Varietés, das Gewusel am Alexanderplatz, obwohl es auch stille Ecken gibt, weiter draußen, in Steglitz oder am Müggelsee, wo die Stadt sich mit dem Land berührt. Wer hätte das gedacht, sagt der Doktor, ich reise an die Ostsee und lande in Berlin. Er sei sehr froh, hier mit ihr zu sitzen, sagt er. Das ist sie auch.
    Die Brücke hat sich nach und nach geleert, es muss bald Mitternacht sein, nur hie und da ein Paar ist zu sehen, die schlafenden Möwen auf den Bohlen und weiter weg die Lichter von den Hotels. Ein leichter Wind ist aufgekommen, der Doktor fragt, ob ihr kalt ist, ob sie gehen will, aber sie möchte noch bleiben, er soll ihr erzählen von der Verlobten oder von diesem Nachmittag, falls das nicht dasselbe ist, und der Doktor sagt, dass es praktisch dasselbe ist.
    In der Nacht liegt sie lange wach. Gegen halb zwei hat er sie nach Hause gebracht, kurz danach hat es zu gewittern begonnen, man hat den Eindruck, direkt über dem Heim, denn zwischen Blitz und Donner vergehen nur Sekunden. Das halbe Haus scheint wach zu sein, auch Tile in ihrem Bett, die sofort fragt, wo sie gewesen ist. Hast du ihn getroffen? Dora antwortet, ja, wir sind ein bisschen spazieren gegangen, und jetzt dieses Getöse. Sie warten, bis das Gewitter weiterzieht, draußen ist es merklich kühler geworden, Dora hat das Fenster aufgemacht und nach drüben zu seinem Balkon geschaut, aber dort ist alles dunkel.
    Es regnet bis zum nächsten Morgen und dann weiter biszum Abend, der Doktor kommt erst am Nachmittag, aber jetzt ist es beinahe schon eine Gewohnheit, dass er da sitzt und sie ausfragt, als würden ihm die Fragen nie ausgehen. Sie mag die Förmlichkeit des Sie , das nur eine Fassade ist, wie sie weiß, eine vorübergehende Verkleidung, die sie eines Tages ablegen werden. Sie kann sagen: Ich habe an Sie gedacht, heute beim Frühstück haben wir über Sie gesprochen, denken Sie noch an Berlin? Sie denkt ununterbrochen daran. Manchmal muss sie sich ermahnen, weil es doch nur Träume sind, sogar in ihr Zimmer in der Münzstraße hat sie ihn in Gedanken bereits geführt, obwohl ihr an dem Zimmer nichts liegt, es hat kein fließendes Wasser, im Grunde ist es nur eine Kammer mit Schrank und Bett, in einem dunklen Hinterhof.
    Sie hält ihn für Mitte dreißig, was bedeutet, dass er etwa zehn Jahre älter sein müsste als sie. Er ist nicht gesund, hat er gesagt, die Spitzen seiner Lungen haben sich erkältet, deshalb das Meer und das Hotel im Wald; nur weil er seit Jahren nicht gesund ist, hat sie ihn getroffen.
    Es ist sein Mund, das Reden, das wie ein Bad ist, wie er sie in Ruhe durchdringt. Kein Mann zuvor hat sie so angeschaut, er sieht das Fleisch, unter der Haut das Beben, das Zittern, und alles ist ihr recht.
    Einmal ist sie sehr glücklich, als er von einem Traum erzählt. In diesem Traum fährt er nach Berlin, er sitzt seit Stunden im Zug, aber aus irgendwelchen Gründen geht es nicht voran, zu seiner Verzweiflung bleiben sie dauernd stehen, er wird nicht rechtzeitig da sein, dabei wird er am Bahnhof erwartet, abends um acht, und jetzt ist es sieben, und er hat nicht mal die Grenze passiert. Das ist der Traum. Auch Dora hat gelegentlich so geträumt und findet das Wichtigste, dass er erwartet wird. Ihr würde das Warten nichts ausmachen, sagt sie, dann säße sie eben die halbe Nacht auf einer Bank. Der Doktor sagt: Ja, meinen Sie? Bis gestern hat er Fräulein zu ihr
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