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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens
Autoren: Michael Kumpfmüller
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Tagen in einem Schaufenster entdeckt hat. Sie hat von dieser Schale oft gesprochen, deshalb kann sie es vor Freude kaum fassen. Wir sehen uns in Berlin, verspricht der Doktor, womit er nur sagt, dass er sie auf der Rückreise in ihrer Buchhandlung besuchen wird. Trotzdem weint sie jetzt. Der Doktor fragt, aber warum, und sie schüttelt den Kopf und behauptet, weil sie sich freut. Hat er die Adresse? Der Doktor nickt, er hat alles notiert, er wird ihr schreiben, sobald er weiß, wann genau er kommt, denn wenn es weiter so regnet, werden seine Schwestern bald nach Hause wollen. Jetzt wird der Abschied doch sehr lang. Tile streichelt die rote Schale, der Doktor macht ihr noch einmal Mut wegen ihrer Eltern, bei denen neuerlichzu leben sie sich nicht vorstellen mag, aber der Doktor sagt, du musst, denk an deine Tanzschuhe, du hast es versprochen.
    Fast ist er erleichtert, dass sie weg ist. Er würde das vor Dora nicht aussprechen, aber auch Dora wirkt erleichtert, obwohl sie das Fehlen Tiles sofort bemerken. Solange es das Mädchen gab, fühlten sie sich beobachtet, sie waren nicht frei, aber auch unbekümmerter.
    Sie haben sich trotz des schlechten Wetters zu einem Spaziergang verabredet. Dora hat gesagt, dass sie ihn abholt gegen zehn, der Doktor ist auf seinem Zimmer und liest, und dann kommt sie über eine halbe Stunde zu früh. Sie ist durch den Regen gelaufen, das schwere Haar, das Gesicht, alles ist nass. Einen Moment ist sie dem Doktor fremd, aber das ist, weil sie in seinem Zimmer ist. Hier also wohnen Sie, sagt sie, noch halb in der Tür; sie hofft, sie stört ihn nicht. Für das Zimmer hat sie keinen Blick, sie steht nur da und lächelt, schaut ihn an, der Doktor müsste nur noch seinen Mantel holen, aber stattdessen, ohne jede Vorwarnung, umarmt er sie. Es ist mehr ein Hinüberbeugen, fast ein Gleiten, er küsst ihr Haare und Stirn, und dazu flüstert er, selbst die Küsse sind mehr oder weniger geflüstert, er ist voller Freude. Seit er sie in der Küche entdeckt hat, ist er voller Freude. Ja, sagt sie. Sie lehnt noch immer in der Tür, als würde sie weiter warten, dass sie aufbrechen, sein Mantel hängt da drüben im Schrank, er müsste ihn nur holen, doch er holt ihn nicht. Er redet von Berlin; wenn sie will, kommt er noch in diesem Sommer nach Berlin. Hat er das wirklich gesagt? Sie nickt, sie küsst seine Hand, vorne die Kuppen der Finger, aber dann muss sie endlich diesen dummen Mantel ausziehen. Sie scheint zu frieren, das Zimmer ist nicht gut geheizt, sie trägt ein Kleid, das er nicht kennt und in demsie nur frieren kann. Geh nicht weg, sagt sie, als er wegen ihres Mantels kurz wegwill, und dann stehen sie lange da, etwas schief, irgendwie umschlungen, Becken an Becken, wie ein Paar. Sie hat sich sofort nach ihm gesehnt, sagt sie, damals am Strand, obwohl sie nicht daran geglaubt hat. Jetzt glaubt sie daran. Kann man Küssen glauben? Sie will wissen, was er denkt, jetzt, in diesem Moment, ob er daran gedacht hat. Nein, sag es nicht, flüstert sie, wobei nicht klar ist, warum sie eigentlich flüstern. Dora ist zum Balkon gegangen und schüttelt den Kopf über das Wetter, was das Wetter angeht, haben sie großes Pech. Jetzt sitzt sie auf dem Sofa neben der Balkontür, wo er gelegentlich liest, der Doktor macht eine Bemerkung zu ihrem Kleid, sie hat es aus Berlin, was ihn daran erinnert, dass es für Dora eine Zeit vor diesem Sommer gegeben hat und was er von dieser Zeit eigentlich wissen will. Es fällt ihm auf, wie jung sie ist, sie hat das Leben noch vor sich, denkt er, mit welchem Recht also greift er danach.
    In der Nacht kommen die Zweifel. Es ist kein Kampf, wie er ihn kennt, und doch liegt er bis zum frühen Morgen wach, die Stunden sind lang, an Schlaf ist nicht zu denken. Dabei gehen die Gedanken langsam durch ihn hindurch, er kann sie sich in Ruhe ansehen, ohne großes Gefühl, wie er mit Erstaunen feststellt, wie ein Buchhalter, der Bilanz zieht und an den Zahlen nicht zweifelt. Die Reihenfolge ist egal, er nimmt die Fragen, wie sie kommen, geht sie nacheinander durch und noch einmal. Er ist krank, er ist fünfzehn Jahre älter als sie, trotzdem könnte er versuchen, mit ihr zu leben, in Berlin, da sie zum Glück aus Berlin ist, denn in eine andere Stadt hat es ihn nie gezogen. Das sind die Umstände, die er halbwegs glücklich nennt, die Küsse am Vormittag nicht gerechnet. Alles andere spricht dagegen: Er hat in den Tagen hier amMeer kaum zugenommen, er fühlt sich schwach, er weiß nicht,
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