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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens
Autoren: Michael Kumpfmüller
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müde wird, sie zu preisen, als wüsste sie selbst am wenigsten, wer sie ist. Habe ich schon etwas zu deinem Kleid gesagt, kann er etwa sagen, und ein paar Sätze später: Komm, lies mir etwas vor, denn wenn sie nicht spazieren gehen, muss sie ihm vorlesen auf Hebräisch. Aus Jesaja hat sie bereits gelesen, er mag am liebsten die Propheten. Ich könnte stundenlang hier sitzen und dir zuhören, sagt er. Oder er sagt: Ich möchte meinen Kopf in deinen Schoß legen, sobald ich den Mut habe, frage ich dich.
    Das Wetter ist weiterhin eine Katastrophe. Solange sie mit ihm in der Küche sitzen kann, ist ihr das egal, aber jetzt gibt es auf einmal Pläne, dass er und seine Schwestern Müritz verlassen. Ellis Mann Karl ist gekommen. Man hat sich lange beraten, gleich beim ersten Frühstück, dass der Doktor nicht isst und so wenig wiegt wie nie zuvor. Am Nachmittag erzählt er ihr davon. Valli habe die Idee mit der Abreise ins Spiel gebracht, sogar die Kinder hätten nicht groß widersprochen; seit sie nicht mehr ins Meer können, seien sie unausstehlich. Er wirkt nicht glücklich angesichts der neuen Perspektiven, behauptet mit keinem Wort, dass die Abreise feststeht, aber früher oder später werden sie natürlich fahren, was leider bedeutet, dass auch er fahre, denn allein, ohne die Schwestern, könne er nun einmal nicht bleiben.
    Anfangs möchte sie es nicht glauben. Aber warum, fragt sie. Und was heißt allein? Bist du etwa allein? Sie hat noch gar nicht von ihm gekostet, will sie sagen, außerdem hatten sie immer nur ein paar Stunden, und sie selbst kann hier leider nicht weg, denn könnte sie von hier weg, würde sie nicht zögern, ihm zu folgen. Der Doktor versucht sie zu beschwichtigen, noch sei über eine Abreise nicht entschieden, wenngleich er zugeben muss, dass der Gewichtsverlust nicht unerheblich ist, vielleicht finde sich für die nächsten Wochen ein günstigerer Ort.
    Sie stehen oben in seinem Zimmer, sie kann ihn kaum ansehen, jetzt, da sie begreift, dass es nur noch wenige Tage sind. Es fällt ihr auf, dass sie an eine Abreise nie geglaubt hat. Sie hat gedacht, wenn die Ferien zu Ende sind, fahren sie ohne Umweg nach Berlin. Nun ist es an ihr, den Plan infrage zu stellen. Der Doktor steht in ihrem Rücken, sie spürt seine Hände auf ihrem Bauch, wie er ihr durchs Haar fährt, wie er an ihr riecht. Er sagt: An unseren Plänen ändert sich nicht das Geringste. Ich muss es dir nicht mal versprechen, denn würde ich es dir versprechen, würde das bedeuten, dass ich zweifle; je schneller ich von hier wegfahre, desto schneller bin ich in Berlin. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das glaubt, ob es nicht nur etwas wie die rote Schale für Tile ist, etwas, das man mit nach Hause nimmt und dann nicht weiß, für was um Himmels willen man es gebrauchen soll. Morgen kommt Puah, sagt er, ich glaube, du wirst sie mögen. Er hat sie die ganze Zeit nicht losgelassen, seine Hände sind warm, was doch ein gewisser Trost ist, aber auch nicht mehr.
    Tatsächlich mag sie Puah sofort. Sie ist nicht nur wegen des Doktors hier, aber man merkt, dass sie sich gut kennen, von Puah hat er Hebräisch gelernt, außerdem lebt sie seit einiger Zeit in Berlin, sodass es gleichsam eine doppelte Verbindung gibt. Vor Puah erwähnt er ihre Berliner Pläne mit keinem Wort. Er lobt das Heim, die Kinder, die ihm allerdings nicht mehr so lieb sind, wenn er ehrlich ist, nicht so wie damals, als sie jeden Abend singend und essend im Garten saßen, was sich so anhört, als wäre esJahre her. Das ist Dora, sagt er, und Dora findet, es klingt, als würde er sagen, schaut her, dies ist das Wunder, das mir geschehen ist. Leider werde er demnächst abreisen, erzählt er am Abend, als sie alle zusammensitzen, nicht jeder sei mit diesem Beschluss einverstanden, am wenigsten er selbst. Puah sagt: Dann treffen wir uns doch in Berlin. Anschließend reden sie länger über Berlin, aber anders als der Doktor und sie über Berlin reden, als wäre alles nur schlimm, ja, als wäre es überall besser als ausgerechnet in Berlin, wo Kartoffeln unter Polizeischutz verkauft werden müssen und die Reichsbank täglich zwei Millionen neue Banknoten druckt. Kriegt ihr das in diesem Nest überhaupt mit? Der Doktor lacht und sagt, dass es hier tatsächlich Zeitungen gebe, aber Dora hört nicht zu, sie sieht den Blick der anderen Frau, die Puah heißt. Der Doktor gefällt ihr, sie fährt sich durchs Haar, wenn sie mit ihm spricht, macht einen Scherz über sein Hebräisch und
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