Die Herrlichkeit des Lebens
er sich in einem Gastgarten eine Portion Eis, beginnt einen Brief an Max, legt ihn wieder weg, fühlt sich wie verlassen. Jede Stunde spüre er die böse Wirkung des erst eintägigen Alleinseins stärker, wird er später schreiben, aber jetzt sitzt er einfach da, ohne Gefühl für den Ort. Um ihn herum sind Familien mit Kindern, es ist Mittwoch, der Garten ist nicht sehr voll, eine dicke Kellnerin bringt einem weinenden Jungen den verlorenen Luftballon zurück, überall Stimmen, Geplapper, vereinzelt Gelächter, zwei Tische weiter zwei Paare, die sich über Geld unterhalten, etwas mit Koffern, die man neuerdings braucht. Kürzlich auf der Bank, sagt die Blonde, und dann lachen sie, als wären die bösen Zeiten ein vorübergehender Witz. Fast tröstet den Doktor ihre Ausgelassenheit, er versucht sich zu ermahnen, er ist allein, aber genau das hat er gewollt, außerdem ist er nicht allein, erst gestern Abend war er im Theater, mit Tile und zwei Freundinnen in einer Aufführung der »Räuber«.
Kaum hat er Berlin verlassen, sinkt dem Doktor der Mut. Die Stadt war schlimm, aber was ihn erwartet, ist viel schlimmer. Er sitzt im Zug und muss aufpassen, dass er sie nicht verliert, wie sie bei ihm im Zimmer gestanden hat, ergeben und zugleich stolz, als wäre sie unverwundbar.
Damit versucht er sich zu wappnen. Elli und Valli werden zu Hause Bericht erstattet haben, wie stark er abgenommen hat, dass die Reise ein Fehlschlag war; schon die Reise im Frühjahr ist ein Fehlschlag gewesen, und trotzdem ist es jedes Mal eine Enttäuschung. Sie werden ihn zwingen, zu essen, sie werden ihn nicht lassen, mit einem leisen Kopfschütteln, gegen Mittag, wenn er noch nicht aufgestanden ist, als hätte er nie begriffen, wie man richtig lebt.
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6
S IE HAT WIRKLICH NICHT GEWUSST, wie es ist; sie ist fünfundzwanzig und hat nicht die geringste Ahnung gehabt. Dora kann sich nur wundern über sich, sie hüpft und lacht, sie war so dumm, bis sie ihn getroffen hat, erst jetzt weiß sie Bescheid.
An die Zeit davor denkt sie nicht groß. Das und das ist gewesen, das meiste nicht der Rede wert, am wenigsten die Sache mit Hans, damals mit Albert der Nachmittag im Hotel, über den man nicht weiter reden muss, und dabei hat sie anfangs gehofft, irgendwann mit ihm zu leben, und dass er sie nicht nur hinhält, wie sie viel zu spät begriffen hat und dann glaubte, sie müsse daran zugrunde gehen. In Wahrheit erinnert sie sich kaum an ihn. Auch an sich selbst erinnert sie sich kaum, als hätte der Doktor ihr früheres Leben ausgelöscht. Sie weiß nicht, wie das möglich gewesen ist. Auf die Küsse und Umarmungen, denkt sie, kommt es gar nicht an, die dummen Sätze, die man sagt und die vielleicht doch wahr sind, jetzt, da er weg ist und alle Sätze gesagt werden können: Ich bin dein, ich geh nicht weg, wenn du mich nicht wegschickst, gehe ich nicht mehr weg. Sie mag es nicht, dass er gefahren ist, aber es ist nicht unerträglich. Wenn sie ihn im letzten Moment nicht besucht hätte, wäre es unerträglich, aber so nicht, es zieht und bohrt, als wäre da ein Schmerz, bloß dass es eben kein Schmerz ist.
Außer dem Telegramm hat sie leider nichts gehört. EinBote hat es ihr gebracht, letzten Dienstag, als er in Berlin war.
Sie weiß, dass er ihr nicht gehört. Seine Hände noch am ehesten, meint sie, die Worte, die er zu ihr gesagt hat, während es draußen dämmerte. Es sind Sätze, die sie fast auswendig kann. Den halben Abend kann sie auswendig, die Stimmen der Kinder, die anfangs zu ihnen drangen, die Stille, seine Gewissenhaftigkeit, jeden einzelnen Tag mit ihr hat er gewusst, jedes erste Mal, denn mit dir ist alles wie das erste Mal.
Seine Schrift ist eine Überraschung, weich und voller Schwünge. Der Brief ist nicht sehr lang, ohne Anrede, sodass sie erst mal ihren Namen sucht, die Stelle, an der er über ihren Abschied spricht. Wunderbarste D., findet sie und weiter unten: Bitte warte in Müritz auf mich, was nun fast so klingt, als würde er in ein paar Tagen zurück sein.
Zu seiner Lage kann er nicht viel sagen, die Familie habe ihn freundlich aufgenommen, aber trotzdem, trotzdem. Wenn ich nicht so elend wäre, hätte ich noch auf dem Bahnhof kehrtgemacht und wäre mit dem nächsten Zug zurück zu dir gefahren. Er erwähnt den Besuch bei Tile, dann sehr ausführlich seine Bekanntschaft mit Friedenau. Beinahe glücklich sei er dort zwei Nachmittage herumgegangen. Überall sei Dora-Land. Müritz ist Dora-Land und dieses wundervolle
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