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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens
Autoren: Michael Kumpfmüller
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Doktor stellt ihr tausend Fragen, woher sie kommt, wie sie lebt, er schaut auf ihren Mund, immerzu auf ihren Mund, flüstert etwas zu ihrem Haar, ihrer Gestalt, was er gesehen hat, was er sieht, alles ohne ein einziges Wort. Jetzt redet sie über ihren Vater, wie sie fortgelaufen ist, erst nach Krakau und dann weiter nach Breslau, als wäre sie nur fort, um eines Tages hier bei diesem Mann zu sein. Sie redet von ihren ersten Wochen in Berlin, weiß sie nachher noch, und wie es plötzlich aufhört, weil Tile kommt; nur weil Tile kommt und sie von hinten mit ihren nassen Händen erschreckt, fällt ihr ein, dass sie zurück in die Küche muss. Der Doktor steht sofort auf und fragt, ob er sie begleiten darf, leider will auch Tile mit, aber dafür lädt sie ihn erneut zum Abendessen ein.
    Fische gibt es heute nicht, diesmal sitzt sie vor einer Schüssel Bohnen. Sie hat gehofft, dass er kommt. Oh, wie schön, so früh, setzen Sie sich doch, ich freu mich, sagt sie. Der Doktor beobachtet sie bei der Arbeit, eine ganze Weile, er sagt, dass er sie gerne anschaut, ob ihr das aufgefallen sei. Sicher werde sie auch in Berlin sehr viel angeschaut, und aus einem ungenauen Grund kann sie sagen: Ja, dauernd, auf der Straße, in der Bahn, im Restaurant, falls sie mal im Restaurant ist, womit sie nicht sagen will, dass es dann so ist, wie wenn der Doktor sie anschaut. Und damit sind sie in Berlin. Der Doktor liebt Berlin, kennt sogar das Jüdische Volksheim und möchte wissen, wie sie dort Köchin geworden ist, und später möchte er, dass sie etwas auf Hebräisch sagt, das zu lernener sich in den letzten Jahren bemüht habe bei einer Lehrerin namens Puah, leider ohne großen Erfolg. Sie muss kurz überlegen, ehe sie sich wünscht, beim Essen neben ihm zu sitzen, und er antwortet, nicht ganz fehlerfrei auf Hebräisch, er habe die halbe Nacht darüber nachgedacht, und dazu verbeugt er sich und nimmt ihre Hand und küsst sie auch, halb im Scherz, damit sie nicht erschrickt. Trotzdem erschrickt sie. Auch später beim Kartoffelschälen, als er wie zufällig ihre Hand berührt, erschrickt sie, weniger über ihn als über sich selbst, wie wild und ausgeliefert sie sich fühlt, als gäbe es nicht die geringste Bedingung.
    Nach dem Abendessen am Sonntag gehen sie spazieren. Sie haben sich richtig verabredet, in einem unbeobachteten Moment am Strand, weil sie Tile nicht kränken wollen, die weiter so tut, als gehöre der Doktor ihr. Nachmittags, als sie alle ins Wasser gehen, ertappt sich Dora, wie sie sich mit Tile vergleicht. Tile rennt einfach los, mit ihren langen Beinen durchs flache Wasser, dass es nur so spritzt, aber der Doktor, der ihr noch schmaler und zarter vorkommt, sieht gar nicht richtig hin. Auch zu Dora sieht er nur kurz hin, aber sie meint zu spüren, wie er sie mustert, Arme, Beine, Becken, den Busen, ja, und es ist ihr recht, dass er alles bemerkt und es zusammenzieht zu einem Bild, weniger fragend als bestätigend, als hätte er das meiste längst gewusst. Das Wasser ist warm und flach, eine Weile zögern sie, hineinzugehen, Tile wird bereits ungeduldig, hoffentlich hat sie die Szene nicht beobachtet.
    Die Schwester ist eher höflich als freundlich, als der Doktor sie am Vormittag einander vorstellt. Von seinen Erzählungen kennt man sich ja schon. Elli weiß, dass Dora Köchin ist und drüben im Ferienheim das beste Essen von Müritz kocht, und Dora weiß, dass sie den Doktorohne Elli nicht kennen würde. Sie mag, wie sie über ihn spricht, ihr Bruder, sagt sie, sei leider ein schlechter Esser, nur mit viel Geduld und Liebe lasse er sich hin und wieder überreden.
    Für den Spaziergang hat Dora das dunkelgrüne Strandkleid angezogen. Es ist nach neun und noch ziemlich hell, und es ist eine Freude, so neben ihm zu gehen und zu spüren, dass er sich nicht weniger freut. Sie könnten sich vorne auf der ersten Landungsbrücke auf eine der Bänke setzen und den Leuten beim Flanieren zuschauen, aber der Doktor will weiter zur zweiten. Dora hat die Schuhe ausgezogen, denn sie geht gern im Sand, der Doktor bietet ihr den Arm an, und da sind sie wieder in Berlin. Der Doktor kennt Berlin aus den Jahren vor dem Krieg, sie ist überrascht, wie viel er weiß, er nennt ein paar Orte, die wichtig für ihn gewesen sind, den Askanischen Hof, in dem er einst einen furchtbaren Nachmittag erlebt habe, trotzdem möchte er seit Jahren nach Berlin. Ja, wirklich?, sagt sie, die eher zufällig in die Stadt gekommen ist, drei Jahre ist das her. Er
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