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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit
Autoren: Helmut W. Pesch
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Farbe. Nur den Ring des Kustos, der an seinem Finger glänzte, hatte er nicht abgelegt; er war sein einziger Halt in dieser Welt der großen Menschen und der einschüchternden Präsenz der Professores.
    Magister Adrion , dachte er im Stillen, wenn Ihr noch von irgendwoher auf mich schaut, steht mir bei, damit ich Euch keine Schande mache.
    Die Halle war gepackt voll mit Menschen. Die meisten von ihnen waren Studenten, doch es fanden sich auch ein paar braungekleidete Baccalaureaten darunter, und hier und da sah man sogar die rote Robe eines Magisters. Es hatte sich herumgesprochen, dass hier und heute eine ganz ungewöhnliche Prüfung stattfinden sollte: ein Examen rigorosum eines Kandidaten, der nicht nur jenem seltsamen kleinen Volk entstammen solle, von dem vor ein paar Jahren so viel die Rede gewesen war, sondern auch eine Arbeit vorgelegt habe, die sich hart am Rande der Ketzerei bewege. Und alle waren gespannt, wie der gefürchtete Magister Quasinus mit ihm umspringen werde.
    Die Glocke des Rektors läutete. Die Prüfung konnte beginnen.
    »Sit thema« , begann der Adversarius. Das Raunen im Auditorium schwoll zu einem solchen Pegel, dass es seine folgenden Worte auslöschte. Ungerührt wartete er, bis wieder Stille eingekehrt war, und setzte dann erneut an: »Sit thema: sive creatio artificialis populum non sit contra grandem Patris Matrisaue designum …«
    Kim hatte natürlich gewusst, dass die Disputatio in der alten Sprache der Gelehrten erfolgen würde, in der er auch seine gesamte Dissertation abgefasst hatte, Wort für Wort. Doch in diesem Augenblick verstand er plötzlich nichts mehr; die Worte klingelten in seinen Ohren, aber es war nur eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten. Er schluckte schwer. Aller Augen waren auf ihn gerichtet; jeder wartete auf eine Antwort.
    Er schloss die Augen. Und plötzlich war ihm, als spürte er neben sich eine Präsenz, die vorher nicht da gewesen war. Einen Augenblick sah er vor seinem inneren Auge das Gesicht seines geliebten Mentors, seine schmächtige Gestalt, gekleidet in die rote Robe des Magisters, und hörte wie aus weiter Ferne seine Stimme: »Nur Mut. Er kann nicht recht haben. Du hast recht.«
    Er öffnete die Augen wieder. Das Zwischenspiel hatte nur einen Lidschlag lang gedauert. Immer noch warteten alle auf seine Antwort. Er räusperte sich.
    »Non est« , sagte er mit fester Stimme. Nein, es konnte nicht sein. Denn wenn die Schöpfung des Ffolks wider den großen Plan des Göttlichen Paares wäre, dann würde dies bedeuten, dass nicht die ganze Welt in ihren Händen läge. »Nam si esset creatio singularis contra designum Patris Matrisaue, mundus non esset finitus, quis vere est secundum fidem et revelationem.«
    Der Adversarius schlug die nächste Seite des Buches auf. Auf dieses schwierige Gebiet wollte er sich anscheinend selbst nicht begeben. Denn die Endlichkeit der Welt zu bezweifeln, wie sie gemäß Lehre und der Eingebung bestand, hätte ihn selbst an den Rand der Ketzerei gebracht.
    So ging es weiter, Frage um Frage. Jede beantwortete der Kandidat mit Sicherheit und Gelassenheit, und auf keine blieb er eine Antwort schuldig. Die Mittagsglocke läutete. Schon hatte die Prüfung zwei volle Stunden gedauert.
    »Sit thema« , hub der Prüfer erneut an.
    Das Auditorium stöhnte auf, so vernehmlich, dass selbst Magister Quasinus es nicht länger ignorieren konnte. Er hob die Augen von dem Codex. Der Rektor sah ihn mit mildem Tadel an.
    »Ist es jetzt nicht genug der Prüfung, Herr Adversarius? Hat der Kandidat nicht hinreichend bewiesen, dass seine Wissenschaft über jeden Zweifel erhaben ist?«
    »Noch eine letzte Frage, Magnifizenz!«
    Der Rektor seufzte. »Sit.«
    Magister Quasinus schlug die letzte Seite von Kims Arbeit auf.
    »Wenn es denn nicht die Rechtgläubigkeit ist, der dieses Opus Magistrale mangelt, dann vielleicht der wissenschaftlichen Redlichkeit. So heißt es hier (citatio): Sicut Popules in Gradum exierunt, expectavit eos Alderonus cum asino suo Alexi. Hohes Gremium, in keiner der mir zugänglichen Schriften habe ich auch nur den geringsten Beleg gefunden, dass irgendwer das Ffolk auf dem Steig erwartet habe. Und woher sollten sie gekommen sein, dieser Alderonus und sein Esel – asinus, inquit! – mit dem hehren Namen Alexis. Möge der Kandidat es beweisen!«
    Kim war wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, diesen Satz geschrieben zu haben. Aber er war sich sicher, dass er davon einmal gelesen
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