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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig
Autoren: Roberta Rich
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grinste. Er konnte das Unmögliche schaffen. Was hinterher kommen mochte, war unwichtig. Es ging allein um den Jungen.
    Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass die Mannschaft zu seiner Unterstützung geschlossen zur Steuerbordseite lief, damit das Schiff sich neigte. Einige lehnten sich sogar über die Reling, um den Effekt zu vergrößern. Das Schiff bewegte sich unter ihrem Gewicht, und der Junge schwang in Isaaks Richtung, kam aber noch nicht nahe genug. Isaak kroch weiter, streckte einen Arm aus, klammerte sich mit den Beinen an die Rahe, reckte den Oberkörper nach unten und bekam das Tau, an dem der Junge hing, tatsächlich zu fassen, erst nur mit den Fingern, dann mit der ganzen Hand. Er zog es zu sich heran und hievte den Jungen zu sich hoch, der zu seiner Erleichterung kaum schwerer als ein Achtjähriger war. Keuchend fasste er seinen Arm und sah die Angst in Jorges Augen.
    »Ganz ruhig. Halte dich an mir fest. Du musst mir auf den Rücken klettern und dich wie ein Affenjunges an mir festhalten, damit ich mit dir zum Mast zurückkriechen kann.«
    Der Junge stöhnte, tat aber, was Isaak gesagt hatte, zog sich auf dessen Rücken und schlang ihm die Arme um den Hals. Zitternd schob Isaak sich zurück, bis er mit dem Fuß den Mast berührte.
    Applaus tönte zu ihm herauf, zusammen mit Pfiffen und ermutigenden Zurufen, und spornten ihn neuerlich an. Jorge immer noch auf dem Rücken, gelang es ihm, sich aufzurichten und zum Krähennest hinaufzuklettern. Er zog sich über die Brüstung, während Jorge so fest seinen Hals umklammerte, dass er fast keine Luft mehr bekam. Isaak griff hinter sich, um den Fuß des Jungen zu befreien, aber das Tau hatte sich so fest und so tief in das Fleisch gegraben, dass er es nicht losbekam. Der Junge schrie vor Schmerz auf, aber es ging nicht anders, Isaak musste das Tau lösen, um ihn nach unten bringen zu können. Endlich gelang es ihm. Jorge schien das Bewusstsein verloren zu haben und hing reglos auf seinem Rücken. Oder war er schon tot? Isaak konnte es nicht sagen, und so flüsterte er ihm zu, was ihm seine eigene Mutter vor vielen Jahren einmal zugeraunt hatte: »Wenn dir die Flügel eines Engels wachsen, figlio , ist alles möglich. Bis dahin bleibe auf der Erde.«
    Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, ein Lächeln über das Gesicht des Jungen huschen zu sehen, und als er spürte, wie sich die Brust des Jungen hob und senkte, wurde Isaak von Erleichterung erfüllt. Er war bereits auf dem Abstieg, als er einen Soldaten mit einer Rolle Seil über der Schulter zu sich heraufklettern sah.
    »Du bist ein mutiger Mann«, sagte der Soldat, als er ihn erreichte, und warf einen Blick auf Isaaks Fußeisen, »aber auch ein Narr. Gib mir den Jungen.« Der Soldat, der kaum älter als der Schiffsjunge zu sein schien, nahm Jorge auf den Arm. »Es tut mir leid, mein Freund, aber ich habe den Befehl, dich ins Verlies des Großmeisters zu bringen.«
    »Kümmere dich um den Jungen. Er blutet stark.«
    Der Soldat nahm Jorge auf den Rücken und begann wieder hinabzuklettern. Isaak konnte den Anblick von Jorges blutigem Kopf kaum ertragen und sah aufs Meer hinaus. Die Seeleute auf dem Vorderdeck warteten darauf, dass auch er nach unten kam, von den Soldaten festgenommen und ins Verlies gebracht wurde.
    Isaak würde sie alle enttäuschen. Er würde Hannah enttäuschen. Und Gott. Nie wieder wollte er ein Sklave sein. Er sah aufs Wasser hinunter. Es war ruhig, aber auch eine ruhige See konnte einen Mann zu sich in die Tiefe ziehen.
    Die Seeluft hatte seinen Schweiß zu einer Salzkruste trocknen lassen. Die alten Hebräer pflegten ihre Toten mit Salz einzureiben, bevor sie ihre Körper der Erde übergaben. Isaak hob den Blick hinaus aufs offene Meer und sah ein Schiff, eine Galeone ähnlich wie die Provveditore , auf den Hafen zusteuern, das ebenfalls die vertraute rote Flagge mit dem geflügelten Löwen am Mast führte. Das Schiff lag hoch im Wasser und das Lateinersegel am Kreuzmast war nur halb mit Wind gefüllt.
    Wenn er den richtigen Moment abpasste, würde die Heckwelle der eleganten Galeone die Provveditore so sehr zum Schaukeln bringen, dass er vom Mast ins Wasser springen konnte, statt auf Deck aufzuschlagen. Er kletterte zurück ins Krähennest und stieg auf dessen Brüstung. Die Soldaten unten bellten zu ihm herauf und befahlen ihm, herunterzukommen, aber er achtete nicht weiter auf sie, sondern sah nur, wie die fremde Galeone durch die Wellen schnitt und dabei eine Spur
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