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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig
Autoren: Roberta Rich
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das Schiff schaukelte zunehmend stärker auf den Wellen, trotzdem kletterte er weiter, den Blick auf die hin- und herschwingende Gestalt des Jungen über sich gerichtet.
    Isaaks Hände waren schweißnass, und er fürchtete, abzurutschen und hinunter auf die Planken zu stürzen. Arme und Beine zitterten ihm vor Anstrengung. Es war unmöglich, weiter unsichtbar zu bleiben. Wenn die Piroge mit der Mannschaft jetzt zurückkam, würden sie ihn so deutlich sehen wie die rote venezianische Flagge, die über seinem Kopf wehte.
    Nach unten zu sehen ließ Isaak schwindelig werden, und so konzentrierte er sich weiter auf den Schiffsjungen, der mit dem Tau an seinem Fuß kämpfte, sich hochzuschwingen und es mit den Händen zu fassen suchte, wobei er Gefahr lief, dass es sich löste und er abstürzte. »Ganz ruhig, figlio ! Nicht so wild!«, rief Isaak. Figlio . Sohn. Das Wort kam ihm ganz natürlich von den Lippen. »Wie heißt du?«
    »Jorge«, antwortete der Junge, und seine Stimme klang so schwach, dass Isaak ihn durch das Krächzen der Krähen hindurch kaum verstehen konnte.
    Der Junge schwang in Isaaks Richtung, und Isaak konnte sehen, dass ihm Blut aus dem Mund und von den Brauen rann. Wenn er ihn nicht bald da herunterholte, setzte er sein Leben für einen Toten aufs Spiel.
    Jorge hing am äußersten Ende der Rahe, wenigstens zwanzig Schritt vom Mast entfernt. Isaak kletterte weiter und kroch, oben angekommen, erst einmal ins Krähennest. Ein Bambuskäfig mit zwei Krähen war an dessen Brüstung gebunden, landliebende Vögel, die, wenn sie befreit wurden, aller Wahrscheinlichkeit nach den direkten Weg zur Küste einschlugen. Der Wind war wieder etwas abgeflaut, wenn der Mast auch immer noch hin und her schwang, als wollte er die Sonne ausradieren.
    »Jorge, ich will, dass du jetzt tapfer bist«, rief Isaak dem Jungen zu. »Wir warten, dass sich das Schiff so stark nach Steuerbord neigt, dass du wie ein Pendel zu mir herüberschwingst. Dann fasse ich dich und hole dich hoch ins Krähennest. Hältst du noch etwas durch?« Isaaks Stimme klang mit einem Mal unnatürlich laut, da sich der Wind fast völlig gelegt hatte.
    »Ja«, gab der Junge kaum hörbar zurück.
    Er kam dem Mast quälend nahe und blieb dabei nur ein paar Armlängen außer Isaaks Reichweite, der darauf hoffte, dass der Wind erneut auffrischte. Aber vergeblich.
    Die Sonne stieg höher, und Isaak dachte, wenn er dem Schiffsjungen das Tau zuwerfen könnte, das im Krähennest lag, und der es schaffte, es sich um den Leib zu binden, würde er ihn zu sich hochhieven können. Hatte der Junge noch genug Kraft für solch ein Manöver?
    »Jorge? Kannst du mich hören?«
    Der Junge antwortete nicht. Er hing schlaff an seinem Tau.
    Es ging nicht anders. Isaak musste auf die Rahe hinaus, ihn am Tau zu sich heraufziehen und den bewusstlosen Kerl zu fassen bekommen. Dann musste er das Tau von dessen Fuß lösen, und wenn es ihm anschließend noch gelang, ihn zurück zum Mast zu schaffen, konnte die Rettung vielleicht gelingen. Geriet der Junge dabei in Panik und wehrte sich, würden sie beide auf den Planken des Schiffes den Tod finden.
    Das Wasser war jetzt so still, dass man einige Faden tief bis auf den Grund sehen konnte. Isaak warf einen Blick zum Hafen hinüber und sah die Piroge voller Seeleute zügig zurück auf die Provveditore zusteuern. Er hielt inne. Sie würden gleich schon hier sein. Sollte er nicht lieber warten und ihnen die Rettung des Jungen überlassen? Das bisschen Zeit würde auch nichts mehr ändern.
    Isaak hörte den Jungen stöhnen und sah das Blut in seinem Gesicht. Der Fuß, dessen Gelenk gebrochen schien, war blau angelaufen. Wenn das Tau nicht schnellstens gelöst wurde, war der Fuß womöglich verloren.
    Behände stieg Isaak über die Einfassung des Krähennestes, schlang einen Arm um den Mast und erreichte die Rahe. Die Piroge stieß gegen die Bordwand, und man hörte die Männer geräuschvoll an Bord kommen.
    Isaak ließ sich nicht beirren, traute sich kaum einen Blick nach unten auf Deck zu werfen, das sich mit Dutzenden von Seeleuten füllte, von denen einige recht weinselig und unsicher auf den Beinen schienen. Er kroch auf die Rahe hinaus und vernahm aus der Ferne ein Rufen: »Seht, da oben!«, und gleich folgte ein Chor von Stimmen, die ihn anfeuerten und ihm zujubelten. Es war lange her, dass ihm jemand zugejubelt oder auch nur seine Gegenwart zur Kenntnis genommen hatte. Er spürte, wie ihm neue Kraft in Arme und Beine floss, und
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