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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman
Autoren: Maggie O Farrell
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Sprache verschlägt (was ihm sonst nicht eben oft passiert). Die Frau erhebt sich von ihrem Baumstumpf, und die Madonna von della Francesca verwandelt sich vor seinen faszinierten Augen in eine Version von Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend . Was für ein Anblick! Wie sie von der erhöhten Rasenfläche herunterkommt, löst sie die gleiche Wirkung aus wie der Duchamp! Sie scheint Zornesblitze zu versprühen.
    Innes beschäftigt sich seit einiger Zeit so intensiv mit den Dadaisten, dass er vor zwei Nächten sogar einen ganzen Traum in einem ihrer Gemälde zugebracht hat. »Mein zweitbester Traum«, wie er findet. (Den Allerbesten kann man nicht erzählen, dafür ist er zu eindeutig.)
    »Außerdem«, sagt die Madonna und baut sich, das Kinn vorgereckt, die Hände in die Hüften gestemmt, wie ein Gladiator vor ihm auf, so dass er froh ist, dass sie die Hecke zwischen sich haben, »ist es verboten. Es wäre mein gutes Recht, die Polizei zu rufen.«

    »Entschuldigung«, stammelt er. »Mein Auto. Eine Panne. Ich suche eine Werkstatt.«
    »Und sieht das hier etwa nach einer Werkstatt aus?« Ihre Stimme ist nicht f reundlich und sanft, wie er es hier auf dem Land erwartet hätte, sondern diamantscharf.
    »Hm. Nein. Allerdings nicht.«
    »Also dann. Auf Wiedersehen.«
    Alexandra bekommt den Voyeur zum ersten Mal richtig zu Gesicht. Er trägt die Haare um einiges länger als jeder andere Mann, den sie kennt. Sein Hemd hat einen ungewöhnlich hohen Kragen und ist osterglockengelb. Der Anzug ist aus hellgrauem Cord und hat überhaupt keinen Kragen; die Krawatte hat die Farbe von Enteneiern. Alexandra geht noch zwei Schritte näher. Osterglocken, wiederholt sie im Stillen, Enteneier.
    »Ich hab Sie nicht beobachtet«, widerspricht der Mann. »Das müssen Sie mir glauben. Ich brauche Hilfe. Ich stecke ziemlich in Schwulitäten. Mein Wagen ist liegen geblieben. Wüssten Sie vielleicht eine Werkstatt in der Nähe? Ich will Sie nicht von Ihrem Kind wegreißen, aber ich muss stante pede zurück nach London. Ich habe einen Drucklegungstermin. Ein Alptraum jagt den nächsten. Helfen Sie mir, und ich bin Ihr dankbarer Sklave.«
    Sie blinzelt. Noch nie hat sie jemanden so reden hören. Schwulitäten, stante pede, Drucklegungstermin, ein Alptraum jagt den nächsten, dankbarer Sklave . Am liebsten würde sie ihn bitten, alles noch einmal zu wiederholen. Doch dann dringen einige seiner Worte zu ihr durch.
    »Das ist nicht mein Kind«, blafft sie. »Damit hab ich nichts zu tun. Es gehört meiner Mutter.«
    »Aha.« Der Mann legt den Kopf auf die Seite. »Dann hätten Sie ja doch etwas mit ihm zu tun.«

    »Inwiefern?«
    »Nun ja. Sie sind immerhin seine Schwester.«
    Es entsteht eine kurze Pause. Alexandra kann nicht anders, als noch einmal seinen Aufzug unter die Lupe zu nehmen. Dieses Hemd, die Krawatte. Osterglocken und Enteneier. »Dann kommen Sie also aus London?«, fragt sie.
    »In der Tat.«
    Umständlich zupft sie ihr Tuch zurecht. Während sie sein Stoppelkinn mustert und sich fragt, warum er sich wohl nicht rasiert hat, nimmt aus unerfindlichen Gründen in ihren Gedanken ein unausgegorener Plan auf einmal konkrete Formen an. »Ich habe vor, nach London zu ziehen.«
    »Was Sie nicht sagen.« Der Mann fängt an, in seinen Taschen zu kramen. Er fördert ein emailliertes grünes Zigarettenetui zutage, nimmt zwei Zigaretten heraus und bietet ihr eine an. Sie muss sich über die Hecke beugen, um heranzukommen.
    »Danke«, sagt sie. Die Hände um ein Streichholz gelegt, gibt er ihr Feuer und zündet sich die zweite Zigarette an. Er riecht nach Haaröl, Rasierwasser und etwas anderem. Aber bevor sie es erschnuppern kann, ist er wieder einen Schritt zurückgetreten.
    »Danke«, sagt sie noch einmal und zieht an der Zigarette.
    Der Mann schüttelt das Streichholz aus und wirft es weg. »Und was hält Sie dann noch hier, wenn man f ragen darf?«
    Sie überlegt. »Nichts«, antwortet sie und lacht. Weil es die Wahrheit ist. Ihr steht nichts im Weg. Sie deutet mit dem Kopf zum Haus. »Die wissen noch nichts davon. Und sie sind bestimmt dagegen. Aber sie können mich nicht aufhalten.«
    »So ist es richtig.« Der Zigarettenrauch kräuselt sich zwischen
seinen Lippen hervor. »Dann wollen Sie also von zu Hause weglaufen?«
    »Nein«, sagt Alexandra und drückt die Schultern durch. »Nicht weglaufen. Ich bin fast zweiundzwanzig. Wenn man erwachsen ist, kann man nicht mehr von zu Hause weglaufen. Vor allem dann nicht, wenn man schon mal
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