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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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spät gewesen. Luisa betrachtete die weiße Zimmerdecke. Man konnte durchaus sagen, dass sie sich auf ihr Angebot gestürzt hatten. Sie fuhren gerne ohne sie, vermutlich sogar noch lieber . Luisa hatte aus gekränktem Stolz behauptet, sie würde sich einen gemütlichen Tag zu Hause machen. Als ob das mit Bauchschmerzen und bei der Hitze möglich wäre. Sie hatte am Ventilator über ihren Papieren gesessen, die grausamen und ungerechten Schmerzen erduldet und versucht, sich nicht zu ärgern. Die beiden waren begeistert zurückgekommen, und Luisa hatte mit leidender Miene vorgeschlagen, bald noch einmal hinzufahren. Damit hatte sie gemeint: wenn es ihr wieder gut ging, zu dritt. Aber sie hatte sich missverständlich ausgedrückt; Christopher und Anne hatten den Vorschlag aufgegriffen und dies schon am nächsten Morgen getan. Und am übernächsten. Als dann am vierten Tag der Regen kam, hatten sie sich etwas Neues ausgedacht: Sie wollten die Ferien-Tauchschule im Hallenbad ausprobieren. Wieder ins Wasser, klar, und so war sie erneut nicht dabei gewesen. Die Woche verging wie im Flug – für Christopher und Anne.
    Luisa blieb mit Benno und ihrem Stolz zu Hause. Vom zweiten Abend an hatte sie sich keine Blöße mehr gegeben, sondern erklärte abends nur immer wieder strahlend, die Arbeit über Rubens schriebe sich wie von selbst; sie würde den Abgabetermin spielend einhalten können. Sie hoffte, Christopher damit neidisch machen zu können; Christopher steckte gerade mit seiner Biologie-Habilitation fest, was wohl zum Teil erklärte, weshalb er so bereitwillig das Kinderprogramm übernahm. Aber er wirkte kein bisschen so, als täte es ihm leid, dass er seinerseits nicht weitergekommen war. Er brachte Anne die Tauchersprache bei, und sie verständigten sich vom Frühstück an in Zeichen.
    So war es zu seinem Bündnis mit Anne gekommen, einem Bündnis, das Luisa wirklich nicht verdient hatte. Zumal den großen Teil der Arbeit sie hatte, das fing mit der Wäsche und dem Einkaufen an und hörte beim Aufräumen noch lange nicht auf. Und er spielte den Helden. Es waren die zweiten Sommerferien, die das Mädchen bei ihnen verbrachte – jetzt war Anne neun –, wie sollte das Verhältnis zu Christopher in ein paar Jahren aussehen?
    Sie setzte sich auf und begann wütend, ein paar Bildbände im Regal zu sortieren. Es war typisch, alles hielt sie in Ordnung, nur ihr eigenes Zimmer wurde vernachlässigt. Eine Weile räumte sie grimmig auf. Immerhin, ihre Einleitung über Rubens war praktisch fertig. Sollte er doch Kindermädchen spielen, sie war dabei, sich einen Namen in der neueren Kunstgeschichtsschreibung zu machen. Luisa musste zugeben, dass ihr einsam verbrachter Sommer auch einen klaren Vorteil für sie hatte. Aber sollte sie deshalb einfach den Mund halten, wenn man sie wie ein fünftes Rad am Wagen behandelte?
    Sie blätterte in einem Rubens-Bildband. Sie hatte das Spätwerk scharf kritisiert, und jeder erneute Blick darauf gab ihr Recht. Es war einfach unappetitlich. Mit dreiundfünfzig Jahren hatte der Maler eine Sechzehnjährige geheiratet, die Patriziertochter Helene Fourment, nachdem zwei Jahre zuvor seine Ehefrau Isabella gestorben war. Es folgte eine neue Schaffensphase, in der Helene Modell stand. Die Bilder vom nackten Pummel Helene mit den Schweinslöckchen gefielen ihr nicht – es sah aus wie Lucian Freud. Von Isabella, der erwachsenen Frau, gab es dagegen Werke, die abgesehen von der Physis auch Facetten einer Persönlichkeit zeigten, wie die spitzbübische Miene auf der Porträtzeichnung, die im British Museum hing. Ja, sie war streng mit seiner späten Schaffensphase ins Gericht gegangen, aber sie hatte alles ästhetisch begründet – sie war schließlich Wissenschaftlerin. Ihr fiel plötzlich ein, dass Anne in sechs Jahren auch schon fünfzehn wäre und Christopher noch nicht einmal fünfundvierzig, und sie nahm sich vor, die Besuche bis dahin unterbunden zu haben. Luisa blätterte in ihrer Einleitung, die als knapp vierzigseitiger Ausdruck auf dem Schreibtisch lag, und fand sie ebenso spitzzüngig wie brillant geschrieben. Vierzig Seiten, das war fast ein Buch. Noch so ein Besuch der Nichte Anne in den Ferien, und sie hätte ein Buch geschrieben. Sie würde sich in ihrem nächsten Kapitel auf die späten Landschaften von Rubens konzentrieren, die herrlichen, stimmungsvollen Flüsse und Bäume, die Perspektive, die unendliche Idylle im weichen Licht vorgaukelte. Er hätte bei den Landschaften
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