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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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zusammen, weil sie direkt ins Licht sah. Sie wollte ein Standfoto machen, für ihre Erinnerung, aber sie fand kein hübsches Motiv; immer bückte sich Anne gerade oder drehte ihr den Rücken zu. Aber es war nicht schlimm; sie hatten ja noch die ganzen Ferien vor sich, und es würde wohl noch die eine oder andere Spielszene geben, die sich eignete. Benno, der normalerweise allem nachrannte, was durch die Luft flog, ob es nun eine Fliege oder ein Stöckchen war, trauerte anscheinend immer noch seinen Hundefreunden nach und legte sich seufzend mitten auf das Tischtuch, so dass er aus-sah, als ob er selbst gleich serviert werden würde. Luisa scheuchte ihn herunter, zog sich die Schuhe aus und legte sich dann auf den Rücken, die linke Hand im Hundefell vergraben, die rechte als Schirm über den Augen. Der Himmel war ein weites, blaues, atmendes Zeltdach, und all die Baumspitzen, die, aus ihrer Perspektive gesehen, in ihn hineinragten, ließen es brüchig und zerrissen erscheinen. Ein dramatisches Gesamtbild ergab sich so, gleichzeitig hatte es etwas Meditatives, als ob die Bäume im grünlich schimmernden Abendlicht und der Himmel mit seiner matten Schönheit sich in einem ständigen Kampf befänden, einem Wettstreit, der aber immer unentschieden endete und mit jeder Runde neu aufgenommen werden musste.
    Sie hörte Anne kichern und das Gehölz knacken und richtete sich halb auf. Sie sah um sich herum: Die Decke, die Obstschale darauf, die Hühnerbeine, die sie am Knochen sorgfältig mit Alufolie umwickelt hatte, damit man sie besser verspeisen konnte, das Brot und der Salat – ja, so war alles richtig, so leistete sie ihren eigenen kleinen Beitrag dazu, dass Bilder sich fortschrieben, überlagerten und erneuerten. Sie durchströmte ein wohliges Gefühl, wie schön war es doch, so zielstrebig zu sein. Es war gar nicht so leicht, man brauchte sowohl Übung als auch Talent dazu. Sie überlegte, in welchen Worten sie Christopher davon erzählen könnte. Sie hatte das schon mehrfach vorgehabt, und es war niemals die richtige Gelegenheit aufgetaucht, aber möglicherweise war sie das heute. Die Anspannung des Tages war verflogen; sie ruhte ganz in sich. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, und wusste, dass sie in diesem Moment ziemlich gut aussah.
    »Was grinst du so?«, fragte Christopher – aber nicht einmal das konnte ihr etwas anhaben.
    »Setzt euch doch«, sagte sie freundlich, fiel dann allerdings aus allen Wolken, als Christopher Anne gegenüber barsch wiederholte: »Du darfst dich setzen«, woraufhin Anne erneut auf diese Weise den Kopf senkte, die Luisa, wäre sie nicht dermaßen entspannt und in sich ruhend gewesen – sie musste sich inzwischen allerdings selbst daran erinnern –, beinahe erneut zur Weißglut gebracht hätte.
    »Anne ist nämlich ein Dienstmädchen, das hat sie mir erzählt«, sagte Christopher, während er nach einem Hühnchenschenkel griff. »Das ist ihr Spiel.«
    » Was ist Anne? Von welchem Spiel sprichst du?«
    »Sie ist bei fremden, bösen Stiefeltern abgesetzt worden, weil ihre richtige Mutter sich nicht mehr um sie kümmern kann. Und hier muss sie schuften, bei reichen Leuten mit großem Haus. Niedere Arbeit machen wie Beeren lesen und den Schmutz wegputzen.«
    Anne, die ihm die ganze Zeit an den Lippen gehangen hatte, nickte glücklich und sah hungrig zum Picknickkorb. Christopher machte eine herrschaftliche Geste, die bedeutete, das niedere Personal dürfe jetzt zugreifen.
    Luisa war perplex. Sie kam sich hintergangen vor. Wie konnte es sein, dass sie auf einmal nur Mitspielerin war? Bei all der Mühe, die sie sich mit dem Picknick gemacht hatte, fühlte sie sich degradiert, wenn sie jetzt nur noch Teil einer fremden Vorstellung sein sollte, noch dazu der eines kleinen Mädchens. Sie, die im Laufe des Tages so viel unternommen hatte, dass alles, was sie sich buchstäblich ausgemalt hatte, auch wirklich stattfand, traf das alles ganz unerwartet. Sie rekapitulierte, welche Bücher sie bei Anne gesehen hatte. Heidi  – gut, im Hause der reichen Klara gab es vermutlich Dienstboten. Plötzlich Prinzessin oder so ähnlich. Ein preisgekröntes Jugendbuch über Sklaverei von Paula Fox, die Luisa selbst als Erwachsenenschriftstellerin liebte. Ja, das alles zusammengenommen, das passte. Anne hatte genügend Vorlagen gehabt, und nun hatte sich, mit Luisa und Christopher, die Möglichkeit geboten, etwas aus ihnen zu machen. Sie selbst wäre niemals darauf
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