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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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aufgeregt, weil sie allein Zug fahren darf.«
    Sie gaukelte ihrer Mutter eine heile Welt vor, und das erst machte ihr klar, wie schlimm es seinetwegen um ihre Ehe stand. Er zwang sie zu lügen. Dieses Monster.
    »Sie fährt allein? Kann sie das denn? Was ist, wenn etwas passiert?«
    Frau Temper senior besaß eine Menge Einbildungskraft. Leider verwendete sie diese dazu, sich alle möglichen Horrorszenarien auszumalen. Im Geiste von Luisas Mutter lag Anne, noch während sie sprachen, bereits in einer Interregio-Toilette, ohnmächtig nach Mehrfachvergewaltigung oder etwas in der Art. Anne würde sich davon nicht mehr erholen, nie mehr zu einem fröhlichen Kind werden, geschweige denn zu einer glücklichen Erwachsenen. Sie hatte neulich erst etwas ganz Ähnliches im Fernsehen gesehen. Luisa wusste, dass es schwer möglich war, ihre aufgeregt plappernde Mutter jetzt noch zu stoppen, trotzdem unternahm sie natürlich den Versuch.
    »Das ist doch nur eine halbe Stunde. Und sie ist schon neun. Es war übrigens die Idee ihrer Mutter.«
    Es war Ines’ Idee gewesen, aber um keinen Preis würde sie jetzt den Namen ihrer Schwester erwähnen, die ihnen das alles aufgehalst hatte und dann, wieder einmal, mit ihrem Lover zu dessen Tagung mit Anschlussurlaub gefahren war. Eine clevere Art, sich einen Urlaub zu erschleichen. Falls Christopher jemals mit der Habilitation fertig wäre und eine Professur bekommen sollte, würde Luisa ihn auch zu Gastvorträgen begleiten.
    »Also, neun ist nicht alt für so eine lange Reise.«
    »Ich bin in dem Alter zum Einkaufen nach München gefahren.«
    »Da warst du aber mindestens elf, und die Oma hat dich vom Bahnsteig abgeholt.«
    Falsch, dachte Luisa. Aber sie war eben das zweite Kind – da merkte man sich nicht mehr alles so genau; die Ältere hatte bereits alle Energie und Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Sie wechselte das Thema. »Ich weiß auch nicht, wo Christopher so lange bleibt«, sagte sie säuerlich.
    Ihre Mutter hatte dazu prompt einige Ideen. Das Auto war schon alt: Alles Mögliche konnte da einfach kaputtgehen! Sie waren bestimmt auf der Strecke liegen geblieben. Standen irgendwo auf dem Seitenstreifen. Alle möglichen technischen Defekte fielen ihr ein, Luisa war verblüfft über ihre Kenntnisse auf dem Gebiet. Und hatte Christopher seine Brillenstärke mal überprüft? Sie hatte ein Foto von ihm gesehen, da hatte er ein Buch sehr dicht vor die Nase gehalten … Sie hörte gar nicht mehr auf. Wie konnte jemand bloß so eine negative Fantasie haben, fragte sich Luisa. Von wegen Zugverspätung oder Stau oder Zündkerzen. Mit Sicherheit war er gemütlich einen Kaffee trinken gegangen oder hatte sich ein riesiges Eis gekauft. Am Bahnhof war seit neuestem eine Häagen-Dazs-Filiale. Anne hatte bestimmt auch ein Eis bekommen, bevor sie in den Zug gestiegen war. Die Vorstellung ließ Luisa das Wasser im Mund zusammenlaufen; sie war, seit sie beschlossen hatte, noch einmal zwei Kilo abzunehmen, praktisch permanent hungrig. Überhaupt hatte Christopher Anne vermutlich schon die ganze Zeit sämtliche Süßigkeiten gekauft, die sie wollte, nur um sich beliebt zu machen. Grundnahrungsmittel wie Milch, Brot oder Fleisch, für die sich keiner bedankte, obwohl sie richtig Geld verschlangen, die durfte natürlich sie besorgen. Das wurde als selbstverständlich genommen. Vor ihrem inneren Auge tauchte Christophers Gesicht auf, wie es über dem geöffneten Brotkasten schwebte und verdutzt sagte: »Es ist kein Brot mehr da«, als ob das Brot sich automatisch vermehrte, wie dieses Zwitterunkraut, das er da wissenschaftlich untersuchte. Meine Güte, er war ein einziges Ärgernis.
    Um noch ein wenig in ihrem Leid zu schwelgen, begann sie ihrer Mutter noch einmal ausführlich zu schildern, wie gut Christopher mit dem Mädchen umgehe und wie vernarrt Anne in ihn sei.
    »Ach, Luisa!«, klagte ihre Mutter. »Glaubst du nicht, dass du doch schwanger werden könntest? Wenn du bloß nicht so elend dünn wärst.«
    »Mama, wer sagt denn, dass ich es bisher überhaupt versucht habe? Ich bin siebenunddreißig. Ich kann noch eine ganze Weile ein Kind kriegen. Wenn ich das denn will.«
    »Du wärst jetzt schon eine Spätgebärende!« Die Stimme ihrer Mutter war von Kummer erstickt.
    »Meine Freundinnen haben alle in diesem Alter Kinder bekommen, gesunde Kinder. Katja war zweiundvierzig, wenn ich dich erinnern darf.«
    »Das sind dann praktisch Spätestgebärende . Gibt es das? Was für ein Risiko!«
    »Ich
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