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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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Blick zu. »Wer ist da?«, fragt sie zögernd.
    Und dann höre ich die Stimme hinter der Metalltür – es sind die Worte, auf die ich seit sechs Jahren warte. Aber die Stimme ist so leise …
    »Kes? Kester? Bist … du das?«
    Misstrauisch trete ich einen Schritt zurück. Er ist hinter einer verschlossenen Stahltür – wie kann er wissen, dass ich es bin? Unwillkürlich muss ich an die Dinge denken, die Mutter damals am Feuer über meinen Vater gesagt hat. Ich blicke zu Polly.
    »Ja, er ist es«, antwortet sie, ohne zu zögern. »Ich bin eine Freundin von ihm. Können Sie uns reinlassen?«
    Einen Augenblick lang herrscht Stille. Nichts rührt sich.
    Dann ist ein letzter dumpfer Schlag von der anderen Seite zu hören. Ein frustrierter Faustschlag gegen die verriegelte Tür.
    »Wir müssen die Tür aufbrechen«, stellt Polly nüchtern fest. Sie blickt mich an. »Genau genommen musst du die Tür aufbrechen.«
    Behutsam lege ich den kleinen Wolf auf den Boden.
    Dann trete ich zurück und gebe Polly ein Zeichen, aus dem Weg zu gehen. Mit aller Kraft werfe ich mich gegen die Tür.
    Immer und immer wieder nehme ich neuen Anlauf, meine Schulter fühlt sich inzwischen schon taub an …
    Bis mit einem metallischen Pling! – so als ob eine Feder brechen würde – die Tür tatsächlich aufspringt.
    Ich reibe meine Schulter und starre überrascht die Tür an. Durch die Fenster des Labors strömt Licht und im Türrahmen sind die Umrisse eines großen Mannes mit wirren Haaren und zerzaustem Bart zu sehen. Noch liegt sein Gesicht im Schatten, doch dann tritt der Mann durch die Tür in das Treppenhaus.
    Mein Vater. Professor Dawson Jaynes.

Kapitel 39
    Pa steht regungslos da und blickt an uns vorbei die Treppe hinauf. All die Jahre hatte ich darauf gewartet, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, wie dieser Moment sich anfühlen würde. Und der Schock wirft mich fast um. Es ist wirklich Pa. Er ist immer noch hier, nach all der Zeit – mit seinem wirren Haar, dem zerknitterten Hemd und dem geistesabwesenden Blick –, mein Pa.
    Meine Brust fühlt sich an wie in einer Schraubzwinge. Ich habe ihn so unendlich vermisst. So viel mehr, als mir bewusst war. Ich weiß nicht, ob es ihm genauso geht, denn nachdem er aus seiner Starre erwacht, ballt er kampfbereit die Faust.
    »Ist dieser Mistkerl immer noch da?«
    Erleichterung überschwemmt mich, als mir klar wird, dass er Skuldiss meint. Polly und ich schütteln den Kopf.
    Pa nickt wortlos, und dann weiß ich, dass er das Gleiche empfindet wie ich, denn er spricht es aus.
    »Kes… ich hab dich so sehr … vermisst.«
    Dann zieht er mich mit seinen großen Bärenpranken an sich und umarmt mich, presst mein Gesicht an seinen Laborkittel. Aber ich reiße mich los. Ich brauche keine Umarmung. Ich brauche Hilfe. Pa blickt erst mich, dann Polly an – und schließlich den kleinen Wolf, der in einer Blutlache am Boden liegt.
    »Hmm«, sagt er. »Ist das ein Freund von dir?«
    »Ja«, antwortet Polly. »Er ist bei mir zu Hause eingebrochen und dann –«
    Mit einer schnellen Handbewegung unterbricht Pa sie.
    »Ich wollte wissen, ob der da euer Freund ist.« Er zeigt auf den kleinen Wolf und ich nicke.
    »Hmm«, macht Pa. Er geht neben dem kleinen Wolf in die Knie, hebt ihn vorsichtig hoch und trägt ihn in sein Labor. Ich spüre Pollys Seitenblicke, als wir ihm folgen.
    Früher bestand das Labor aus blanken weißen Flächen und blitzendem Glas. Jetzt ist es schmuddelig und verdreckt. Auf dem Boden stapeln sich Berge von Papier voller wirrer Kritzeleien, Diagramme, Symbole und Zahlen. Überall stehen schmutzige Teller und verschmierte Gläser. Ein Dutzend Monitore flimmern, Kabel ranken sich wie Efeu um die Computer. Die vier großen, schrägen Glaswände mit Blick auf den Garten und den Fluss dahinter sind von einer dicken Staubschicht überzogen und lassen nur ein spärliches Licht herein. In meiner Erinnerung war der Raum immer lichtdurchflutet.
    Vor allem aber sticht mir der Gestank in die Nase. Der Geruch im Kakerlakentunnel hat mir den Atem verschlagen – aber das war nichts im Vergleich zu dem hier. Es riecht nach – Mensch. Polly und ich halten uns die Hand vor den Mund. Da fällt mein Blick auf etwas, das mich stutzig werden lässt. In einer Ecke des Labors steht ein Bett, die Decke ist unordentlich zurückgeschlagen. Daneben ragt aus einem Berg von Kleidern und Schuhen die nackte Glühbirne einer Stehlampe hervor. Und in einem Becher neben dem Waschbecken steht einsam eine
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