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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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Zahnbürste.
    Pa hält noch immer den kleinen Wolf auf dem Arm. Mit einer Hand fegt er einen Berg von Papier und Tellern von einer Arbeitsplatte. Dann legt er ihn behutsam auf den frei gewordenen Platz und angelt aus dem Gewirr von Kabeln und Bildschirmen eine große Leuchte, die er über die Tischplatte schwenkt. Er krempelt die Ärmel hoch und zaubert wie aus dem Nichts zwei Gummihandschuhe herbei. Dann bittet er Polly und mich, ihm irgendwelche Dinge zu reichen, und beschreibt uns in seiner typisch zerstreuten Art, wo wir alles Nötige finden – als wäre überhaupt nichts passiert, als hätte sich nie etwas geändert.
    »Zunächst einmal Tupfer, Bandagen und Verbandsmaterial – sind wahrscheinlich in dem Schrank über dem Waschbecken – hol dir einen Stuhl, wenn du nicht rankommst – warte, wie heißt du noch mal?«
    »Polly«, antwortet Polly, die schon längst dabei ist, einen Stuhl vor das Waschbecken zu schleppen.
    Dann bin ich dran. Pa gibt mir Anweisungen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als wäre ich nie fort gewesen.
    »Jetzt bräuchten wir so etwa achtundvierzig Milligramm Thiopental-Natrium – Kes, wärst du so gut? Eigentlich müsste das Glasfläschchen im Regal stehen. Wenn nicht, dann sieh mal unter dem Stuhl da drüben nach.«
    Nach wenigen Minuten verstummt das Winseln des kleinen Wolfs und auch das Zittern hört auf. Er liegt einfach nur da und schläft, in seiner Pfote steckt eine Infusion mit milchiger Flüssigkeit, und eine Sauerstoffmaske ist um seine Schnauze befestigt, sodass sich seine Brust nun hebt und senkt.
    Wir reichen Pa alle möglichen Dinge und schneiden unterschiedliche Materialien in verschiedene Größen. Pa arbeitet mit sicherer Hand, er ist die Ruhe selbst, als er die Lampe dicht über den kleinen Wolf zieht, um seinen Zustand zu prüfen. Dann nimmt er scharfe Instrumente von einem Tablett. Polly und ich haben alles sorgfältig mit Papiertüchern gereinigt, die ziemlich beißend nach Alkohol riechen, aber sie waren das Sauberste, was wir auftreiben konnten. Als er sich an der offenen Wunde zu schaffen macht, drehen wir uns weg.
    Pa stochert in der Flanke herum, dann sagt er kurz angebunden: »Schale«, und ich reiche ihm eine Metallschüssel, in die er die blutverklebte Kugel fallen lässt. Mir dreht es fast den Magen um, aber Pa ist schon dabei, die Wunde Stich für Stich zuzunähen. Er gibt dem kleinen Wolf eine letzte Spritze, vergewissert sich, dass die Sauerstoffmaske noch sitzt, tritt einen Schritt zurück und wirft einen prüfenden Blick auf seine Arbeit.
    Mit einem zufriedenen Nicken winkt er uns zu sich. Zögernd wagen wir einen Blick auf den kleinen Wolf.
    Unter der Sauerstoffmaske atmet er noch. Mein Vater tätschelt seine Seite, dann geht er zum Waschbecken, streift die Handschuhe ab und wirft sie auf den Boden.
    »Hmm«, brummt er. »Ein bisschen Ruhe und er wird …«
    Sechs Jahre, und noch immer bringt Pa keinen Satz zu Ende.
    Er trocknet seine Hände sorgfältig mit einem Papierhandtuch ab und wirft es knapp neben einen überquellenden Mülleimer in die Ecke.
    Wir verfolgen jede seiner Bewegungen. Keiner spricht ein Wort. Mir liegen so viele Fragen auf der Zunge, Fragen, die mir nicht über die Lippen kommen. Frustriert stampfe ich mit dem Fuß auf. Polly zuckt zusammen, aber dann, als wäre das ihr Stichwort, stellt sie die Frage. Einfach so. Als wäre es das Einfachste auf der Welt.
    Die Frage, die uns beiden auf den Nägeln brennt.
    »Ist es wahr, Professor Jaynes?«
    Pa blickt sie fragend an.
    »Hmm?«
    »Was alle sagen. Skuldiss, die Außenseiter, Facto – sie alle sagen, dass Sie es waren, der das Virus in die Welt gesetzt hat. Dass alles Ihre Schuld ist.«
    Und er lächelt. Er lächelt wirklich. Aber es ist ein trauriges Lächeln und er schüttelt den Kopf.
    »Das sagen sie also über – hm, ich verstehe.« Er kratzt sich am Kopf. »Tja …« Pa zeigt auf das Chaos im Labor. »Was immer ihr jetzt denkt, was immer man euch gesagt hat, was immer ihr glaubt, es ist …«
    Er hält inne.
    »Falsch?«, schlägt Polly vor.
    Ich hoffe es so sehr. Ich wünsche es mir so sehr.
    Aber Pa nickt nur vage, als hätte sie ihm soeben verraten, wo seine Hausschuhe stehen, und legt mir die Hände auf die Schultern.
    »Kes«, hebt er an. »Nichts von alldem ist … verstehst du …«
    Dann seufzt er und mustert mich von oben bis unten.
    »Du bist groß geworden«, sagt er und packt meine Schultern fester. »So groß.«
    Dann wendet er sich
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