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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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ich gerade gesagt haben.
    Früher konnte ich ganz normal sprechen, so wie alle anderen auch. Ma und ich haben ziemlich viel miteinander geredet, Pa und ich nur ein bisschen. Jetzt ist es so, als müsste ich die schwierigste Sprache der Welt wieder neu erlernen. Ich weiß zwar, dass ich es eigentlich kann, aber sobald ich den Mund aufmache – passiert nichts. Je mehr ich mich anstrenge, desto schwerer wird es.
    Man hat versucht, mich wieder zum Sprechen zu bewegen, und Doktor Fredericks probiert seine Tests an mir aus, aber es nützt alles nichts. Wenn ich dann ganz rot im Gesicht werde, starren mich alle so komisch an, und manchmal lachen sie und überlegen sich selbst die Antworten, die ich ihnen auf ihre Fragen geben könnte.
    Nein danke, da würde ich mich lieber mit irgendwelchem Viehzeug unterhalten. Davon gibt es hier nämlich jede Menge. Flatternde Motten, die das Licht umkreisen, so wie gerade jetzt, Spinnen, die in Ecken lauern, oder Kakerlaken, die zwischen den Abfalltonnen herumkrabbeln. Die vielen unnützen Insekten und Schädlinge, denen die Rote Pest nichts anhaben konnte, sind uns meistens nicht einmal einen Namen wert, sie sind Ungeziefer, mehr nicht.
    Aber ich habe mich bei meinen Sprechversuchen manchmal an sie gewandt. Eigentlich sollen wir ja einen großen Bogen um sie machen – dabei weiß doch jeder, dass sie die Einzigen sind, die das Virus nicht kriegen können. Ich habe niemandem etwas von dem Flattervieh in meinem Zimmer erzählt. Mir gefällt es, meine Sprechübungen zu machen, während es hin- und hersurrt. Natürlich antwortet es mir nicht. Aber es lacht auch nicht und starrt mich nicht an. Ich kann also so tun, als würde es mir zuhören.
    Das tue ich sehr oft.
    * Also gut, Ungeziefer *, spreche ich in Gedanken, * mal sehen, ob du herausfindest, was ich diesmal sage .*
    Ich bin gerade wieder einmal dabei, »B-E-T-T« zu sagen oder zumindest ein »B« oder auch nur einen Laut von mir zu geben, der wie ein »B« klingt, als der runde Deckenlautsprecher dröhnend zum Leben erwacht. Das Ungeziefer flattert verärgert davon, es kann das genauso wenig leiden wie ich.
    »Ein Rundruf an alle, äh, Schüler. Eure erste Mahlzeit des Tages wird in Kürze im, äh, Hof serviert. Und zwar in genau zehn M-Minuten.«
    Ein Klappern ist zu hören, als das Mikrofon zurückgestellt wird, und dann ein Summen, weil der Sprecher vergessen hat, es auszuschalten. Eine Minute lang hört man seinen schweren Atem, ehe er darauf aufmerksam wird und das Mikrofon abschaltet.
    Doktor Fredericks, der Direktor.
    Er kann sich so viele Titel verleihen, wie er will, er ist und bleibt ein hässlicher Mann in einem weißen Kittel, der seine spärlichen Haare über die Glatze kämmt und dessen Atem nach Süßigkeiten riecht. Am Tag nach meiner Ankunft – nachdem sie mich mitten in der Nacht zu Hause abgeholt hatten – musste ich zusammen mit den anderen Kindern im Hof warten, während er hinter einem Pult stand, seine Ansprache von einem Bildschirm ablas und seine Jacke im Luftzug der Klimaanlage flatterte.
    »Seid gegrüßt, ähm, Jungs und, äh, Mädchen. Willkommen in Men-äh-torium. Eure Eltern haben euch hierhergeschickt, weil sie euch, ähm, vergessen wollen. Eure Schule, äh, ist nicht länger gewillt, euch zu dulden, und hat uns daher um Hilfe gebeten. Weil wir eine spezielle Einrichtung sind, die sich mit speziellen F-Fällen wie euch beschäftigt. Ich werde euch jetzt verraten, was euch, ähm, hier erwartet.« Seine Lautsprecherworte hallten zwischen den Wänden. »Dreht euch um und schaut aufs Meer hinaus. Man sagt, es sei das schmutzigste und verseuchteste Meer der Welt.«
    Er starrte durch seine panzerglasdicke Brille auf uns herab und schnippte eine lose Strähne seines fettigen Haares weg, während wir durch die Glaswände hinaus auf die Wellen sahen, die gegen die Klippen brandeten und sich an den Felsen brachen.
    Ich weigerte mich zu glauben, dass Pa mich vergessen wollte.
    Und auch jetzt, sechs Jahre danach, glaube ich es immer noch nicht.
    »Es gibt zwei, äh, Wege, um von hier wegzukommen. Durch unser Eingangstor, als wertvolle und tüchtige Mitglieder unserer Gesellschaft. Oder über diese verfluchten K-Klippen hinunter in das, ähm, Meer. Entweder ihr lernt, euer Verhalten zu verändern, oder ihr lernt verdammt noch mal, äh, zu tauchen!«
    Bisher habe ich weder das eine noch das andere gelernt.
    Ich ziehe meine Trainingshose an, schlüpfe in meine Turnschuhe und lege meine Armbanduhr an. Ein lautes
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