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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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ziehen, weil man dort besser für ihre Sicherheit sorgen könne. Und aus demselben Grund leben wir hier unter einem kieloben liegenden Glaskreuzer.
    Mir ist dieses Sicherheitszeug egal, ich bücke mich, strecke den Arm aus und lasse das Ungeziefer auf meine Hand krabbeln.
    Ich halte es auf Augenhöhe vor mich und betrachte es genauer.
    Der kleine Bursche ist ein stattliches Exemplar, das größte, das ich je gesehen habe. Die anderen Kinder würden vor Schreck ausflippen, aber ich nicht. Ich lasse den Blick über meine schattig feuchte, menschenleere Ecke schweifen, hin zur gegenüberliegenden Seite des Hofs, wo die anderen Schüler lachen und beim Essen herumalbern, und ich denke, dass Maze es wohl ziemlich genau getroffen hat, als er mich Freak nannte.
    Denn er hat recht. Genau das bin ich. Ich habe es mir nicht ausgesucht, ich habe es mir nicht gewünscht, aber genau das bin ich – ein Freak, stumm und Ungeziefer als einzige Freunde.
    Von der Klimaanlage kommt ein kalter Windstoß, der mich frösteln lässt, und plötzlich fühle ich mich sehr allein. So allein, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Es ist, als wäre ich nicht mehr auf dem Hof, sondern würde im Weltall treiben, als wäre ich irgendwo dort oben verloren gegangen. Es klingt total verrückt, aber manchmal genieße ich diese Stimmung sogar. Dann rufe ich mir absichtlich all die traurigen Ereignisse in Erinnerung – wie zuerst die Tiere verschwunden sind und dann Ma und dass ich von Pa wegmusste und jetzt ganz auf mich allein gestellt bin. Ich stelle mir vor, das alles würde einem Plan folgen, mit dem Ziel, mein Leben so erbärmlich wie möglich werden zu lassen. Dann breitet sich ein warmes drückendes Gefühl in meiner Brust aus, steigt nach oben und drängt in meine Augenwinkel: Ich hasse es, ich hasse alles, sogar mich selbst, weil ich so fühle, wie ich fühle, und ich bin kurz davor, loszuheu len, als …
    Als ich es höre. Ein Geräusch.
    Das seltsamste Geräusch, das ich je gehört habe, klar und deutlich und zugleich dumpf und knisternd, wie bei einem dieser Radioapparate in alten Filmen. Ein Geräusch, aus dem sich nach und nach ein Wort heraushören lässt.
    * Hilfe! *
    Nur dieses eine Wort, mehr nicht.
    * Hilfe! *
    Niemand ist in der Nähe. Die Aufseher sind alle drinnen und dösen vermutlich vor sich hin. Drüben an der Theke hat die Breite Brenda Tony in den Schwitzkasten genommen und versucht gerade, seine Ration Formula zu stibitzen, beide sind viel zu weit weg. Und dann ertönt die Stimme erneut, diesmal sind es zwei Worte, so leise, dass ich sie kaum verstehe.
    * Kester! Hilfe! *
    Wer auch immer da spricht, er hat eine sehr tiefe Stimme. Es ist keine Kinderstimme und auch nicht die Stimme eines erwachsenen Mannes. Sie ist rau und klingt wie ein Steinbrocken, der über ein Metallrohr schleift.
    * Bitte. Du musst helfen .*
    Keine menschliche Stimme hört sich so an.
    Da endlich dämmert es mir, wessen Stimme es ist. Bei dem Gedanken verknotet sich mein Magen. Es ist die einzig denkbare Antwort und zugleich ist sie völlig undenkbar. Die kleinen Fühler scheinen mir zuzuwinken, als er mich ansieht …
    Der Kakerlak.
    Nein – ich bilde mir das nur ein. Wir sind hier nicht in einem Zeichentrickfilm. Der Kakerlak hat weder hervorquellende Augen noch einen Hut auf dem Kopf und er singt auch kein Lied. Und ich bezweifle sehr, dass er mir einen Wunsch erfüllen wird. Er ist nur ein Insekt auf meiner Hand, sonst nichts.
    Und doch kann ich ihn hören. Er versucht, mit mir zu sprechen .
    Der kleine Kerl zuckt ungeduldig mit den Fühlern – als sich plötzlich ein Schatten auf uns beide legt. Es ist der Schatten des Aufsehers, der sich vor mir aufbaut, mich am Kragen packt und hochzieht, während das Insekt auf den Boden kullert und blitzschnell im Abfluss verschwindet. Es sieht mich noch einmal kurz an, dann huscht es ohne ein weiteres Wort in das Loch.
    Was mir in dem Moment durch den Kopf geht? Kakerlaken können nicht sprechen. Ich kann nicht sprechen. Alles ist so, wie es war.
    Da sagt der Aufseher die Worte, die keiner in Mentorium gerne hört: »Der Doktor will dich sehen.«

Kapitel 3
    Es gibt Orte, da kann man nicht einfach hingehen, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben.
    Diese Arztzimmer sind anders als die restlichen Räume. Sie haben keine Glaswände, durch die man das Meer sehen kann. Sie sind unterirdisch, und man muss zuerst im Fahrstuhl einen speziellen Code eingeben, um dorthin zu gelangen. Vom Fahrstuhl
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