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Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)

Titel: Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
Autoren: Piers Torday
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Sei’s drum. Diesen Selwyn Stone hat noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Vielleicht gibt es ihn gar nicht. Das lässt sich schwer sagen, wenn der Betreffende immer nur hinter abgedunkelten Autoscheiben unterwegs ist oder aber, umringt von Heerscharen Fotografen und Leibwächtern, durch die Türen eines Hochhauses verschwindet. Oberster Chef von Facto, jener Mann, der Formula entwickelt hat. Und inzwischen der Chef der ganzen Insel, jener Mann, der all die neuen Regeln aufgestellt hat. Lass die Finger von diesem und jenem, iss dieses und jenes nicht, lebe nicht da oder dort. Im Augenblick sind mir diese blöden Regeln ziemlich egal. Und wie um das zu beweisen, setze ich mich auf diesen dämlichen Namen, nehme die Schüssel und warte.
    Es ist nämlich so, dass nicht ich meine tägliche Ration vertilge.
    Na ja, ich nehme vielleicht einen kleinen Happen – aber es ist wirklich ein scheußliches Zeug. Nein, ich gebe es jemand anderem. Jemandem, der jeden Moment auftauchen müsste.
    Und tatsächlich, im Schatten des Abflussrohrs werden plötzlich suchend zwei Fühler ausgestreckt. Zwei orangerote Fühler, die zu einem etwa daumengroßen Insekt gehören. Es hat einen flachen Kopf, viele haarige Beine und ein lautlos kauendes Paar Kiefer.
    Ein weiteres Ungeziefer. Ein Kakerlak.
    Zwei Fühler tasten in der Luft, prüfen die Umgebung, ehe der Kakerlak vorsichtig hinaus ins Freie krabbelt, sodass man nun seine zwei großen weißen Streifen auf dem Rücken sehen kann.
    Ich lächle ihn an. Nicht dass er jemals zurücklächeln könnte, er ist ja ein Kakerlak. Aber er kommt immer wieder gern und nascht an meinem Formula, daher scheuche ich ihn nicht weg. Und als Gesellschaft ist er ganz okay. Er kommt nicht auf die Idee, mir einen Schlag gegen das Bein zu versetzen und zu fragen: »Wenn ich dir ans Schienbein trete, schreist du dann endlich?« (Auch hier lautet die Antwort: Nein.) Er dreht mir nicht die Arme auf den Rücken, damit die anderen mich zu Tode kitzeln und fragen: »Was denn, lachen kannst du auch nicht?« (Nein.) Und er johlt nicht und deutet auch garantiert niemals auf mich, wenn ich mich verzweifelt abmühe, ein Wort hervorzubringen.
    Er hört mir einfach nur zu.
    Ich tröpfle ein bisschen Formula auf meinen Löffel, und nachdem ich mich vergewissert habe, dass keiner mich beobachtet, lege ich den Löffel direkt neben meine Füße. Das Insekt kommt herangehuscht und fängt an zu schlecken.
    Niemand weiß, warum Kakerlaken immun gegen die Rote Pest sind. Pa war allerdings nicht sonderlich überrascht, dass sie das Virus überlebt haben – seinen Worten zufolge könnte man sogar eine Atombombe zünden, und Kakerlaken wären die Einzigen, die die Explosion überleben.
    So ist das, wenn man einen Wissenschaftler als Vater hat. Man braucht weder Schule noch Prüfungen, weil man die gesamte Freizeit damit verbringt, ihm im Labor zur Hand zu gehen, bis einem der Kopf schwirrt von lauter nutzlosem Faktenwissen.
    Die Rote Pest ist allerdings keine Atombombe, sondern eine Krankheit. Meiner Meinung nach ist sie viel schlimmer als jede Bombe. »Sie ist wie Tiergrippe«, hat Pa mir erklärt. Eine Grippe, die Körper und Verstand der Tiere zersetzt und die dazu führt, dass die Tiere kurz vor ihrem Tod rot glühende Augen bekommen, so als würden sie von innen heraus verbrennen.
    Pa vermutete anfangs, dass die Krankheit auf einem Bauernhof ihren Ausgang genommen hatte, aber letztlich fand man nie heraus, woher sie eigentlich kam. Und da sich das Virus so rasend schnell ausbreitete, war es eigentlich auch egal. Nicht nur die Nutztiere, die uns als Nahrung dienten, waren davon betroffen, sondern alle lebenden Kreaturen – Wildtiere, Haustiere, Zootiere –, und zwar weltweit. Die Seuche wütete so lange, bis es in den Wäldern nur noch Kadaver gab, Vögel vom Himmel fielen und die Fische in endlos langen Reihen auf der Wasseroberfläche trieben.
    Bis schließlich alle Tiere der Welt vernichtet waren.
    Alle bis auf die nutzlosen. Diejenigen, die man nicht essen kann und die weder Feldfrüchte bestäuben noch Schädlinge vernichten. Weil sie nämlich selbst Schädlinge sind. Ungeziefer. Wie zum Beispiel dieser übel riechende Kakerlak, der aus meinem Löffel Formula schlürft. Auch wenn die Schädlinge das Virus gar nicht kriegen, soll man sie trotzdem nicht anfassen. Weil die Menschen sich anstecken könnten. Deshalb hat Facto die ländlichen Gebiete zur Quarantäne-Zone erklärt und alle Leute gezwungen, in die Städte zu
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